Gray Kiss (German Edition)
des Ekels von sich. Ich öffnete ein Auge, um nachzusehen, wer außer mir noch so früh in der Schule war.
Es war Jordan. Sie stand mit verschränkten Armen vor mir.
„Was machst du denn jetzt schon hier?“, wollte sie wissen.
„Es ist ein freies Land, soweit ich informiert bin. Und du?“
„Ich muss etwas erledigen.“
Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, das fiel mir sofort auf. Bestimmt hatte sie schlaflose Nächte wegen Julies Selbstmord, deshalb sagte ich nichts. Ich mochte Jordan zwar nicht, ich wollte allerdings auch nicht extra grausam sein.
„Um sieben Uhr morgens hast du etwas zu erledigen?“, hakte ich nach.
„Ich muss noch ein Referat schreiben.“
„Wie schön. Lass dich nicht aufhalten.“
Jordan kramte in ihrer Handtasche, aus der prompt etwas heraus und auf mein Bein fiel. Es war eine Visitenkarte und ein Päckchen Kaugummis.
„Gib her.“ Sie streckte ungeduldig die Hand aus.
Es war die Karte der Modelagentur. „Wieso hast du die noch?“
Sie riss sie mir aus den Fingern. „Weil ich da gleich hingehe. Ich muss nur erst mein Referat abgeben, und dann bin ich weg. Ich will herausfinden, ob ich recht habe - an dieser Frau war irgendwas seltsam.“
Ich richtete mich auf und musterte sie misstrauisch. „Keine gute Idee, wenn du mich fragst.“
Sie machte ein noch entschlosseneres Gesicht. „In Trinity gehen seltsame Dinge vor sich.“
Es irritierte mich, dass sie das sagte. Wissen war Macht - konnte aber auch Gefahr bedeuten. Und in manchen Fällen sogar tödliche Gefahr. „Die Stadt ist groß. Hier passieren immer seltsame Dinge.“
„Aber es ist schlimmer als sonst.“ Sie seufzte und rieb sich die Augen. Wie ich feststellte, trug sie heute gar kein Make-up. Für ein aufstrebendes Model, dem seine Schönheit wichtiger war als der Verstand, war das äußerst bemerkenswert. „Mir scheint … Ich glaube, ich bin die Einzige, die das mitbekommt. Alle anderen leben weiter wie immer, als würden ihnen nicht auffallen, dass hier etwas schiefläuft. Doch ich kann es spüren . Ich kann es sehen. Und nachdem das mit Julie geschehen ist … Das hat mich noch in meiner Vermutung bestätigt. Ich kann einfach nicht mehr tatenlos danebenstehen. Ich muss die Wahrheit herausfinden.“
Seth hatte gestern Abend etwas über ein Mädchen gesagt, das gestürzt war - ganz sicher hatte er damit Julie gemeint. Das hatte ich schon beinahe vergessen. Gut, Seth verwirrte mich immer, aber wieso sollte er ausgerechnet sie erwähnen, wenn ihr Tod mit rechten Dingen zugegangen wäre?
„Ich denke, du bist einfach nur sehr traurig“, sagte ich. „Komm wieder runter.“
„Ich brauch nicht runterzukommen. Julie war nicht selbstmordgefährdet. Überhaupt nicht. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Es ging ihr gut. Und von einer Minute auf die andere war sie wie ausgewechselt.“ Jordan wirkte verwirrt und verzweifelt, so wie sie mich mit ihren grünen Augen ansah. „Ist dir bekannt, dass sich in Trinity in einer Woche mehr als zwanzig Selbstmorde ereignet haben? Und keiner der Betroffenen litt unter Depressionen.“
Ich war schockiert. „Woher weißt du das?“
„Wenn ich etwas herausfinden will, finde ich es heraus. Ich habe mit der Polizei gesprochen. Ich habe ihnen von dieser Eva erzählt, allerdings glauben sie nicht, dass man deswegen Ermittlungen einleiten muss.“ Sie gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Das ist so ärgerlich! Sie denken, Julie wäre deprimiert gewesen wegen eines Typen, der mit ihr Schluss gemacht hat. Aber das stimmt nicht! Ich habe sie verloren. Und ich … Ich habe Stephen verloren. Ich verliere alle, die ich liebe.“
Sie ließ ihren Schmerz raus. Sie kannte nicht einmal die Wahrheit über Stephen. Für sie war er nur ein Idiot, der sie ohne Erklärung abserviert hatte - und sie hatte keinen Schimmer, dass er sie verlassen hatte, um ihr Leben zu retten. „Es tut mir so leid, wirklich. Vielleicht solltest du noch mal mit der Vertrauenslehrerin sprechen. Sie kann dir bestimmt helfen.“
Jordan fasste sich wieder, rieb sich die Augen und strich sich die rote Mähne aus dem Gesicht. „Ich brauche keine Hilfe. Ich brauche Antworten.“
Da hatten wir etwas gemeinsam. Ihre schiere Entschlossenheit erinnerte mich an mein eigenes Vorhaben. Plötzlich war ich so wach, als hätte ich drei Tassen Espresso getrunken.
Ich befürchtete nur, dass ihre Nachforschungen sie nicht weiterbringen würden - im Gegenteil. „Und du denkst wirklich, Julies Tod hat etwas
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