Grayday
Eigenschaften.
Slangbegriffe für Kaffee: Java, eine Tasse Joe. In seiner ersten Woche in Amerika hatte er diese Worte in den Spiegel gesprochen. Später hatte er seinen Plastikbecher zur Arbeit getragen wie ein Läufer mit der olympischen Fackel. Er wünschte sich, er hätte diese Tasse noch. Als er draußen vor Starbucks stand und ihm der Pappbecher die Hand wärmte, rief er sich das beruhigende Bild eines abgedunkelten Zimmers mit einem Fernseher in Erinnerung. Einem Fernseher, der nicht auf einen Nachrichtenkanal eingestellt war. Einem Fernseher, in dem eine leicht verständliche Geschichte lief, in der er nicht der Hauptdarsteller war. Am liebsten mit Romantik und Liedern. Und einem Happy End.
Eine Querstraße hinter dem Factory Outlet Center San Ysidro lag das Riverside Motel. Mit seinem Kaffee in der einen und seiner Tasche in der anderen Hand überquerte Arjun die Straße, betrat das Hotel und nahm sich ein Zimmer mit Südbalkon im ersten Stock. Die beiden halbwüchsigen Jungen, die ihm die ganze Strecke von San Diego gefolgt waren, beobachteten vom Parkplatz aus, wie er kurz auf den Balkon trat, um die Aussicht zu betrachten. Er trank einen Schluck Kaffee, dann ging er wieder nach drinnen, zog die Vorhänge zu und entschwand in die Legende.
RAUSCHEN
W ir wollen das Unbekannte eliminieren«, schreibt einer der Leela- Forscher. Das ist ein sehr verbreiteter Wunsch. Wir Menschen wollen wissen, was außerhalb unseres Umkreises lauert, jenseits des uns umgebenden flackernden Feuerscheins. Wir haben Objektive und Geigerzähler gebaut, Massenspektrometer und Solarsonden und Abhörstationen auf entlegenen antarktischen Inseln errichtet. Wir haben die Welt mit Informationen überflutet in der Hoffnung, dass das Unbekannte endlich und endgültig verschwinden wird. Aber Information ist nicht dasselbe wie Wissen. Um das eine aus dem anderen herauszuholen, muss man, worauf das Wort hindeutet, informieren. Man muss übermitteln. Vollkommene Information wird manchmal als das Signal definiert, das von einem Sender zu einem Empfänger ohne Verlust übermittelt wird, ohne dass die kleinste Unsicherheit oder Verwirrung dazwischentritt.
In der wirklichen Welt aber gibt es immer Geräusche. Ein Rauschen.
Seit 1965 veröffentlicht die Russische Akademie der Wissenschaften eine Zeitschrift mit dem Titel Problems of Information Transmission. Sie bietet, soweit eine wissenschaftliche Publikation (selbst eine russische) einen emotionalen Eindruck vermitteln kann, deprimierenden Lesestoff. Durch tiefgründige Abhandlungen über Markowsche Ketten und Hamming-Distanzen, über binäre Goppa-Codes und den multivariablen Poisson-Strom schlängelt sich ein Vokabular der Unvollkommenheit, der Fehlerberichtigung und Dichteschätzung, von Signalen, von denen man nicht weiß, wann sie auftauchen und wieder schwinden, von ungenauen Kenntnissen und durch Entropie verursachten Verlusten. Schwache Vektoren erblickt man kurz durch einen Nebel Gaußschen weißen Rauschens. Sicherheit weicht der Wahrscheinlichkeit. Informationsübermittlung, so zeigt sich, ist so ungefähr das Beste, was man tun kann.
In Medienanalysen hat man für die Wirkung der Viren der Leela- Varianten in der Zeit, als das meiste Rauschen im globalen System herrschte, die Bezeichnung Grayday gefunden. Grayday dauerte natürlich länger als nur einen Tag und war grau nur im metaphorischen Sinn. Derjenige, der sich diesen Begriff ausgedacht hat, war wahrscheinlich kein Ingenieur. Dennoch spiegelt die Bezeichnung ein gewisses kybernetisches Dunkel wider, das über der Zeit hing, die gemeinschaftliche Melancholie von Netzwerkbetreibern, die Perfektion erstrebten, sich jedoch erschreckenden Verlusten, Ausfällen, Abstürzen und Mängeln jeder Art gegenübersahen.
Grayday war eine Informationskatastrophe, eine Massenvernichtung von Bits. Eine Reihe größerer Netzwerke, die Dinge wie mobile Telefone, Flugreservierungen, den transatlantischen E-Mailverkehr und Bargeldautomaten bedienten, fielen gleichzeitig aus. Andere Systeme waren ebenfalls betroffen, aber ihre militärischen, körperschaftlichen oder staatlichen Eigentümer waren nicht bereit, öffentlich zu erörtern, was geschehen war. Was die Zahl der kleineren Fälle angeht, so wird das Problem eines der Zählung. Heimcomputer? Einzelpersonen? Kennen Sie jemanden, der mit Leela nicht auf die eine oder andere Weise in Berührung gekommen ist?
Leelas Rauschen wechselte mühelos aus den Netzwerken in die Welt der Dinge
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