Grayday
die Kollegen in Ruhe. Niemand nahm besonders Notiz von Shiros Angewohnheit, alle paar Minuten heftig mit den Armen zu rudern, oder von Donnys Abneigung gegen purpurrote Gegenstände in seinem Blickfeld. Alle ließen ihre Telefone auf Voicemail geschaltet, und die meisten trugen Kopfhörer bei der Arbeit, womit sie sich einen privaten Schallraum schufen, der in der Regel nur im Notfall verletzt wurde. Die Kommunikation untereinander wickelten sie per E-Mail ab, selbst wenn die Beteiligten in Nachbarkabinen saßen. Arjun erschien das logisch. Privatzonen sind kostbar. Die Möglichkeit, seine Verbindungen je nach Vordringlichkeit ordnen zu können, ist wertvoll. Jemanden zu unterbrechen, um mit ihm reden zu wollen, heißt, ihm deine Frage einfach mitten auf den Tisch zu knallen. Damit hebst du seine Zugriffssteuerung auf und minderst objektiv seine Funktionsfähigkeit, was so dicht an eine technische Definition von ungehörigem Benehmen herankam, wie es nach Arjuns Gefühl überhaupt möglich war.
Außerhalb der dritten Etage bei Virugenix war Arjuns gesellschaftliches Leben stark begrenzt. Das war nicht weiter schlimm, denn die vielen Neuheiten des Lebens in Redmond (Busfahrpläne, Verordnungen der Stadtverwaltung, Namen von Bäumen) und der Wiederaufbau seines Heimcomputer-Netzwerks nahmen ihn voll in Anspruch. In der Cafeteria aß er wie viele seiner Kollegen meist allein. Viele aus dem AV-Team mieden alle Gemeinschaftsbereiche des Campus, weil sie diese als bedrohlich und unberechenbar empfanden. Obgleich Arjun dem Workaholic-Ethos von Virugenix folgte (inoffizielles Firmenmotto: Manchmal ist es nobel, unter seinem Schreibtisch zu schlafen), stellte er in den seltenen Momenten außerhalb seiner Kabine manchmal fest, dass er sich nach einem Gespräch sehnte. Versuchsweise schloss er eine oberflächliche Bekanntschaft mit einem Bengalen, der in der Firewall-Abteilung arbeitete, und mit einem dilliwallah aus dem Team für Diagnostikprodukte. Er nahm sogar eine Einladung zum Abendessen bei der Familie des dilliwallahs an, doch obwohl er vorsichtshalber eine Liste mit Gesprächsthemen zusammengestellt hatte, war es kein gelungener Abend.
Die hausinterne Kommunikation erschöpfte sich weitgehend in der Verbreitung amüsanter Dateien. Der Witz in seiner klassischen Büroform war sehr beliebt.
Frage: Wie viele Programmierer sind nötig, um eine Glühbirne auszuwechseln?
Antwort: Keiner. Das ist ein Hardwareproblem.
Leider konnten einige Mitarbeiter mit den Witzen nicht umgehen und fingen an, sie detailliert (und auch wütend) zu analysieren und zu deuten. Weniger umstritten waren dagegen die Fragebögen. Formatierte Quizspiele, in denen von den Adressaten verlangt wurde, dass sie ihre Kenntnisse von Angel, ihren »Verdummungsquotienten« und ihre sexuelle Leistungsfähigkeit einschätzten, wurden oft mehrfach am Tag herumgeschickt. Woche für Woche erfuhr Arjun mehr über sich. Sein Faible für Dungeons & Dragons schien in Ordnung zu sein. Sein Penis war von durchschnittlicher Größe. Er war kein heimlicher Mac-Benutzer, allerdings stufte ihn die Tatsache, dass er nicht mit Sexspielzeug vertraut war und sich an keine Situation erinnern konnte, wo er sich in Leder- oder Gummikleidung geworfen hatte, um seinem Mann zu gefallen, als »altmodisches Mädel« ein. Seine Gewohnheit, zwölf Milchkaffees und neun Colas pro Tag zu trinken, machte ihn zu einem »hochgradig Koffeinsüchtigen«. Besorgt schickte er eine E-Mail an eine Hilfsgruppe, die ihm die Empfehlung zurückmailte, nicht so viele koffeinhaltige Getränke zu sich zu nehmen.
Ein Fragebogen erregte im Intranet mehr Aufsehen als alle anderen. Unter der Überschrift »Wie Aspergergestört bist du?« wurde der Empfänger aufgefordert, über Fragen wie diese nachzudenken:
Siehst du den Leuten in die Augen, wenn du mit ihnen redest?
Findest du es schwierig, Beziehungen einzugehen oder aufrechtzuerhalten?
Bringen dich zweideutige Bemerkungen durcheinander?
Werfen dir Leute vor, dass du nicht ihre Interessen teilst?
Reagieren andere Leute ohne nachvollziehbaren Grund wütend oder ärgerlich auf dich?
Hast du Marotten oder starre Gewohnheiten?
Brillierst du in kniffeligen logischen Aufgaben?
Musst du dich beim Sprechen daran erinnern, dass du die Stimme modulieren musst?
Fällt es dir schwer, soziales Verhalten zu dechiffrieren?
Bist du nach einer oder mehreren speziellen und eingegrenzten Tätigkeiten süchtig?
Sagen dir Leute, dass deine technische
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