Grayday
überließ er ihn jemand anderem, und in ihm wuchs die unlogische Hoffnung, wenn er ganz still und ruhig bliebe, könne er sich retten, dann müsse er nicht durch eine der drei Milchglastüren gehen.
»Mehta A.P.?«
Er starrte angestrengt aus dem Fenster.
»Mehta A.P.?«
Es war zwecklos. Die Frau mit der Liste meinte ihn. Schwach hob er die Hand und ließ sich von ihr in ein Büro führen, wo sie auf einen Stuhl vor einem Furnierholzschreibtisch zeigte. Auf der anderen Seite lümmelte, die Beine herausfordernd übergeschlagen, ein Mann, der weniger ein Mensch als vielmehr ein Nachrichtenmedium, ein Kanal zur Übertragung von Lifestyle-Botschaften an Verbraucher zu sein schien. Von seinem gegelten Haar bis hinunter zu seinen leicht blank gescheuerten Pennyloafers löste jedes Detail seines Äußeren eine Reihe von Assoziationen aus, die nach sozialem Aufstieg rochen, einige unverhohlen (das Markenzeichen auf seinem Tennishemd, seine Gürtelschnalle, die Bügel seiner UV-Sonnen-Schutzbrille, die auf seinem Kopf thronte), einige versteckt (das Gewicht seiner Schweizer Armbanduhr, das Schweizerische an dieser Uhr) und einige lediglich als leichte Andeutungen, Anklänge leiser Sehnsüchte im Duft seines Unisex-Rasierwassers, in Kette und Schuss seiner khakifarbenen Slacks.
Arjun zerrte an seinem Kragen.
»Sunny Srinivasan«, sagte das Medium, beugte sich über den Schreibtisch und schüttelte ihm die Hand. »Na, wie geht’s denn heute?«
Sunny Srinivasans Gesichtszüge waren regelmäßig und ausdrucksstark. Er hatte das höfliche, wenn auch aggressive Auftreten eines Mannes, der Spaß am sportlichen Wettkampf hat. Wenn er redete, erschallten seine Worte mit Entschiedenheit und Verve, wobei seine verschliffenen Vokale und rollenden Konsonanten den Zuhörer auf die Quelle all seiner übrigen Wohlstandszeichen zurückverwiesen:
Amrika.
Aufenthaltsort der Inder ohne Daueraufenthalt.
»Arjun Mehta«, sagte Arjun und versetzte sich sofort innerlich einen Fußtritt, weil er die transatlantische Anredeform außer Acht gelassen hatte. »Ich meine, gut. Mir geht es gut.«
Sunny Srinivasan öffnete den Mund und entblößte ein Lächeln, das wie ein zahnbewehrter Scheinwerfer strahlte. »Es freut mich, das zu hören, Arjun. Jedem Menschen sollte es gut gehen – jeden Tag.«
Arjun nickte feierlich und sackte auf seinem Stuhl noch etwas tiefer. Der Berufsberater im NOIT hatte ihm mehr als einmal vorgehalten, ihm fehle es an positiver Einstellung. Sunny Srinivasan dagegen schwitzte eine solche geradezu aus. Die Tage, an denen es ihm gut ging, bildeten wohl eine ununterbrochene Reihe, die in die Nebel einer vermutlich sehr schönen Kindheit zurückreichte. Als Sunny die Hand ausstreckte und ihm seine Papiere abnahm, bestaunte Arjun die Schönheit seiner Haut. Jeder Teil dieses Mannes, der nicht mit baumwollener Luxus-Freizeitkleidung bedeckt war, schien vor protzigem Leben zu glühen, als wäre ihm so etwas wie eine Leuchtmembran unter die Epidermis implantiert worden. Arjun blickte auf seine eigenen Arme und Hände: gewöhnlich und belanglos. Sie sahen aus wie das »Vorher«-Foto in einem Schönheitsinserat.
Während Arjun über Hautpflege nachdachte, blätterte Sunny die Zeugnisse durch, wobei er das eine oder andere gegen das Licht hielt. »Na«, schloss er. »Das sieht ja alles hervorragend aus. Was Sie mir jetzt aber unbedingt verraten müssen, ist, wie viel daran ist Schaumschlägerei.«
»Schaum-? Was meinen Sie damit?«
»Nun, Arjun K. Mehta, am North Okhla Institute of Technology zum B.Sc. ausgebildet, auf dem Papier sehen Ihre Qualifizierungen gut aus. Nicht phantastisch, aber gut. Die Frage ist, sind sie echt?«
»Absolut. Hundertprozentig.«
»Freut mich zu hören. Die Hälfte der Versager da draußen im Warteraum haben sich ihre Diplome im Basar gekauft. Ein weiteres Viertel hat irgendeinen popligen Computerkurs in der Abendschule absolviert und ihn so frisiert, dass er wie eine Collegeausbildung aussieht. Aber Sie, Arjun, Sie sagen mir, bei Ihnen ist alles wasserdicht. Stimmt’s?«
»Absolut. Wasserdicht. Alles in Ordnung. Wie ich in meiner Bewerbung geschrieben habe, kann ich Zeugnisse vorlegen. Ich bin in allen wichtigen Grundgebieten erfahren – Vernetzung, Datenbank …«
»Sie müssen nicht weiterreden.« Sunny hielt seine glatten, Lipid-genährten Hände in die Höhe. »Sie brauchen mich mit all dem Zeugs nicht zu beeindrucken. Ich werde Ihnen ein Geheimnis erzählen, Arjun: Den Unterschied
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