Grayday
einem Polyesterhemd gequetscht wurde. Spürte Guy Swift irgendeine geheime Verbindung zu dem Jungen in dem Bus zehntausend Meter unter ihm? Fühlte er vielleicht ein Rucken, eine Vorahnung, eines dieser unerklärlichen Phänomene, die sich in einem Erschauern oder im Aufstellen der Haare im Nacken oder auf den Armen bemerkbar machen? Nein. Nichts. Er spielte Tetris in der Spielkonsole seiner Armlehne.
Er hatte gerade seinen eigenen Punktrekord gebrochen.
Guy Swift, dreiunddreißig Jahre alt, britischer Staatsbürger, Papiermillionär und stolzer Inhaber des Platinstatus dreier verschiedener Vielfliegerprogramme. Guy Swift, zweimal Young British Market Visionary of the Year und mehrfacher Eurobrand-Leistungspreisträger. Guy Swift, Ehrenmitglied eines Clubs in Soho, genetisch begabt mit hohem Wuchs, regelmäßigen Gesichtszügen, rotblondem Haar, das attraktiv verwuschelt war, relativ inaktiven Schweißdrüsen, reiner Haut und einer gusseisernen Kreditwürdigkeit. Zwei Jahre lebte er nun schon mit der angeblich unerreichbaren Gabriella Caro zusammen, die während ihres Studiums an der International School of Fine Art and Cuisine in Lausanne jedes Jahr zum attraktivsten Mädchen ihrer Klasse gewählt worden war. Er hatte die Nummer des Türstehers der Chang Bar auf seinen Schnellwahltasten. Man hätte meinen können, er wäre unangreifbar.
Guys Sitz hatte acht verschiedene Parameter, die allesamt entsprechend seinem Komfort und Wohlgefühl verändert werden konnten. Die Fluggesellschaft hatte einen Beutel mit Toilettenutensilien, eine Schlafmaske und ein Paar Wegwerfpantoffeln zur Verfügung gestellt, auf die das neue Firmenlogo gestickt war. Er kramte den Beutel durch, ließ aber alles unbeachtet bis auf die Pantoffeln, die er in seinen Händen herumdrehte. Ein Trendreport hatte jüngst angedeutet, dass die Fluggesellschaft demnächst das Tabu gelb akzentuierter Grüntöne in der Kabine durchbrechen werde. Die Pantoffeln und die Begleitutensilien präsentierten sich indessen noch in konservativer blauer Farbgebung. War das, fragte er sich, fehlender Mut?
»Noch etwas Champagner, Sir? Ein Schlückchen Wasser?«
Er nahm von der lächelnden Stewardess ein Glas entgegen und badete unbefangen in der Softporno-Atmosphäre des Augenblicks. Innerlich vermerkte er die Erfahrung als Aktivposten auf der Gefühlsbilanz der Fluggesellschaft. Er genoss den androiden Charme der Stewardess, die Art, wie ihn dieser abgerichtete Frauenkörper daran erinnerte, dass er nur ein Werkzeug war, der uniformierte Sondierkopf der großen Firmenmaschinerie, in der er sich verfangen hatte. Er (oder vielmehr seine Firma) bezahlte diese Maschinerie, damit sie eine gezielte Reihe von Freuden und Gefühlen verabreichte. Voller Hochachtung vor ihren Bemühungen hatte er die letzten vier Stunden reglos wie ein Krankenhauspatient dagesessen und sie eine nach der anderen genossen. Das Gewicht von Porzellan und Glas, die Froschlaichfeuchtigkeit eines winzigen Töpfchens Eye-Gel.
Der Flug befand sich weit in seiner nächtlichen Phase. Die Kabinenlichter waren abgedunkelt worden. Die anderen Passagiere der ersten Klasse hatten ihre Gratisexemplare des Wall Street Journal beiseite gelegt und schienen in Trance verfallen zu sein. Sie unterteilten sich in die Standardgattungen, in Geschäftsschädel mit beginnender Glatze, von Konferenzen und Kongresscenter-Höflichkeiten anästhesiert, und in blanke Pensionärsköpfe, die die Stewardessen mit langen Wunschlisten in Beschlag nahmen. Er steckte sich ein Paar Kopfhörer in die Ohren und drückte »Play« auf seinem momentan bevorzugten persönlichen Soundtrack, einem Mix von DJ Zizi aus dem Superclub Ataxia auf Ibiza. Zizi, der die Uplifting-Ambient-Szene beherrschte wie ein Koloss im engen T-Shirt, hatte seinem Mix den Titel »Darker Shade of Chili« gegeben. Ein guter Titel, dachte Guy, weil die Musik zwar »dark«, trotzdem aber »chill« war. Rauschende Brandung, weibliches Stöhnen und Streicherfragmente wurden gegen Nebelhörner und Klavierechos gesetzt.
Die Musik tröpfelte in Guys Gehirn und machte langsam sein Inneres frei wie ein ältlicher Hausmeister, der Stühle übereinander stapelt. Er hatte das Gefühl engelhafter Zufriedenheit. Hier war er, existierte, flog durch die Luft und brachte die Botschaft seiner selbst von einem Punkt der Erdoberfläche zum nächsten. Er schaltete seinen Laptop ein und versuchte halbherzig, eine Mail an Gabriella zu formulieren, aber angesichts des leeren
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