Gregor Bd. 5 - Gregor und das Schwert des Kriegers
Arztbesuch war drin, es sei denn, er stünde an der Schwelle zum Tod. Einem Arzt konnte er nicht mit irgendwelchen faulen Ausreden kommen. Der würde die Wahrheit wissen wollen und dann würde Gregor in der Klapsmühle landen.
Gregor zog sich ein langärmeliges T-Shirt und eine lange Hose an. Beide kamen ihm zu kurz vor. Er war ziemlich gewachsen, seit … seit er weg war, wie lange auch immer das her sein mochte. Er zog Strümpfe und seine einzigen Überlandschuhe an, schicke Lederschuhe, die er für das Frühjahrskonzert bekommen hatte. Sie drückten an den Zehen und außerdem passten sie überhaupt nicht zu seinen Klamotten. Jetzt hätte er gern die tollen Turnschuhe gehabt, die Mrs Cormaci ihm geschickt hatte, doch die hatten den Krieg nicht überstanden.
Er schlich sich hinaus, aber als er an Mrs Cormacis Wohnung vorbeikam, ging die Tür auf. Mrs Cormaci stand immer frühauf. »So, du bist also ganz geblieben«, sagte sie und betrachtete ihn von oben bis unten. »Deine Hose hat Hochwasser. Wie wär’s mit einem armen Ritter?«
Gregor folgte ihr in die Küche und setzte sich an den Tisch; sie machte Frühstück. Sie erzählte ihm, wie es um seine Großmutter stand. »Es geht ihr nicht besonders gut, Gregor. Sie liegt auf der Intensivstation. Falls deine Mutter vorhat, sie mit nach Virginia zu nehmen, also, das ist völlig ausgeschlossen.«
Sie stapelte dicke Scheiben Hefezopf, die sie in Ei gebraten hatte, auf Gregors Teller und stellte ihm noch eine Platte mit Schinkenspeck hin. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir hierbleiben«, sagte er und goss sich Sirup über das Brot. »Vielleicht nimmt sie nur uns Kinder mit.« Aber es wäre schrecklich, die Familie erneut zu trennen. Sie waren gerade erst wieder alle zusammen.
»Vielleicht. Also, was hast du inzwischen so erlebt?«, fragte Mrs Cormaci.
Gregor dachte an alles, was passiert war, seit er zuletzt zu Hause gewesen war. Alles, was er gesehen und getan hatte. Er konnte nichts davon in Worte fassen.
»Na, hast du deine Zunge verschluckt?«, sagte Mrs Cormaci. »Ist schon gut. Erzähl es mir einfach, wenn dir danach ist.« Sie tunkte ein Stück Schinkenspeck in seinen Sirup und kaute nachdenklich. »Weißt du, Mr Cormaci hat in einem Krieg gekämpft. Er wollte auch nicht darüber sprechen. Aber ich wusste, dass er da schreckliche Dinge erlebt hatte. Bis zu seinem Tod hat er Albträume gehabt.«
»Ich bin heute Morgen von einem aufgewacht«, sagte Gregor.
»Das war bestimmt nicht der letzte«, sagte Mrs Cormaci. »Möchtest du Saft?« Ohne seine Antwort abzuwarten, schenkte sie ihm ein Glas voll. »So ist es doch. Die ganze Kindheit hindurch erzählen sie dir, dass du nett zu anderen sein sollst und dass es schlimm ist, jemandem wehzutun, und dann schicken sie dich in einen Krieg und sagen dir, du sollst töten. Was passiert da mit deinem Kopf, hm?«
»Nichts Gutes«, sagte Gregor.
»Aber das wird schon wieder, Gregor«, sagte Mrs Cormaci.
»Ich weiß nicht. In meinem Traum bin ich zu Tode gestürzt«, sagte Gregor. »Ich hab schon oft vom Fallen geträumt, aber das war das erste Mal, dass ich auf dem Boden aufgekommen bin.«
»Keine Sorge. Wenn du auf dem Boden aufkommst, dann gibt es hier jede Menge Leute, die dir aufhelfen können«, sagte Mrs Cormaci.
Mir aufhelfen?, dachte Gregor. Mich aufwischen trifft es wohl eher. Wenn man auf diese Felsen knallt, bleibt nicht viel von einem übrig. Und selbst wenn ihm jemand helfen wollte, in seinen Träumen war er allein. Dort konnte ihm niemand helfen.
Während er aß, fand Mrs Cormaci noch ein altes Paar Turnschuhe, die vor über zwanzig Jahren einem ihrer Söhne gehört hatten. Sie waren nicht gerade topmodisch, aber sie passten ganz gut und sahen besser aus als die schicken Lederschuhe.
»Du brauchst neue Sachen zum Anziehen für die Schule«, sagte sie.
»Hat die schon wieder angefangen?«, fragte er.
»Schon vor Wochen«, sagte sie. »Wir haben Mitte Oktober, Gregor.«
»Das wusste ich nicht«, sagte er.
Den Vormittag verbrachte er damit, auf seine Schwestern aufzupassen, während seine Eltern und Mrs Cormaci die Großmutter im Krankenhaus besuchten. Lizzie und Boots frühstückten und Gregor stand am Küchenfenster und schaute zu, wie die Nachbarskinder zur Schule gingen. Er dachte an seine Freunde Larry und Angelina – was sie wohl dachten, wo er steckte? Glaubten sie, er wäre umgezogen? Oder krank? Einerseits wollte er sie unbedingt sehen, andererseits wollte er sie nie wiedersehen.
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