Greife nie in ein fallendes Messer
Verlauf der Börsensitzung merklich zurückgegangen. Die Neigung, auf diesem niedrigen Kursniveau zu verkaufen, ließ nach. |46| Die Zeit der Schnäppchenjäger war offensichtlich schon wieder vorbei, so schnell, wie sie gekommen war. Leider konnte dieser leichte Stimmungsumschwung an der Wall Street die deutschen Anleger nicht beruhigen. Sie hatten schon längst in ihrer Panik Augen und Ohren verschlossen und waren mit den Erinnerungen an den Oktober 1987 ins Bett gekrochen. Nichts konnte das Unheil am deutschen Aktienmarkt aufhalten.
Am Montag darauf geschah das, was geschehen musste: Schon vor Börsenbeginn ertranken die Kreditinstitute in einer Flut von Verkaufsaufträgen aus dem Kreis der Kleinanleger.
Was wir in unserer Sondersendung ab 11 Uhr den Zuschauern aus dem Frankfurter Börsensaal schilderten, war das absolute Chaos. Von meinem Reporterplatz auf der Galerie im Börsensaal konnte ich beobachten, wie sich das Unglück anbahnte. Über die Telefonleitungen der Filialen waren die unlimitierten Verkaufsaufträge der privaten Kleinanleger in den Börsenbüros der Kreditinstitute gelandet, an den Seiten des Börsensaals. »Waschkörbeweise«, so am Tag danach ein Börsenhändler, »waschkörbeweise haben wir im Laufschritt nur rote Orderzettel zu den Kursmaklern hinter den Börsenschranken getragen. Ich konnte das Rot schon nicht mehr ertragen.«
Auf roten Zetteln wurden vor der Einführung der elektronischen Orderabwicklung die Verkaufsaufträge notiert. Auf grünen oder auch blauen Zetteln standen die Kauforders. Aber von Kaufaufträgen war in dieser Anfangsphase der Börsensitzung kaum etwas zu sehen. Trotz zusätzlicher Mitarbeiter, die in weiser Voraussicht aus den Zentralen der Kreditinstitute in Richtung Börsenplatz 1 in Marsch gesetzt worden waren, brach das Kommunikationssystem zwischen den Kunden, den Filialen, wo die Aufträge angenommen und weitergeleitet wurden, und dem entsprechenden Börsenbüro zusammen. Auf ihrem Marsch in Richtung Abgrund schien die deutschen Kleinanleger nichts aufhalten zu können. Meine Appelle an die Vernunft, meine Hinweise auf den unerheblichen Anlass der Kursverluste an der Wall Street, meine Bitten, wenigstens mit limitierten, also nach unten begrenzten Verkaufsaufträgen an die Börse zu kommen, alles half nichts. Wie bei einer durchgehenden Rinderherde waren die Verkäufer nicht mehr zu stoppen.
|47| Selbst der Super-Cowboy John Wayne hätte diese Stampede nicht verhindern können.
Erst gegen 12 Uhr konnten die Kursmakler die ersten offiziellen Kurse feststellen, und um 12:30 Uhr, mit einstündiger Verspätung, wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Wie in einem defekten Fahrstuhl war am Ende der DAX von 1 589,28 auf 1 385,75 in den Keller gerauscht. Ein Tagesverlust von rund 203 Punkten. So schlimm hatte es die deutsche Börse selbst im Oktober-Crash von 1987 nicht erwischt. Kaum ein großer DAX-Wert ohne Minusankündigung. Bis zu dreifach Minus selbst bei den Standardwerten im DAX. Damit signalisierten die Kursmakler für den jeweils nächsten Kurs einen Verlust von 20 Prozent – für mich als Börsenreporter wohl der schlimmste Tag, nicht wegen der absoluten Kursverluste, vielmehr wegen seiner ganzen Irrationalität.
Eine völlig unbegreifliche, gespenstische Szene: Wie besessen stürzten sich die deutschen Kleinanleger mit ihren Aktien im Arm in die Tiefe. Vor allem die beliebtesten, besten Aktien wurden zu Schleuderpreisen verramscht. Daimler verloren 111 D-Mark, VW-Stammaktien sackten in einem Rutsch von über 470 auf unter 400 D-Mark, für den soliden Chemietitel Bayer gab es ebenfalls kein Halten mehr. Hatte die Aktie vor diesem Massaker noch knapp unter 300 D-Mark gelegen, so wurde sie jetzt im Ausverkauf um 20 D-Mark billiger gehandelt.
Heute sind solche ungerechtfertigten, übertriebenen Kursschwankungen im Tagesverlauf nicht mehr so ungewöhnlich. In der Regel aber stirbt ein übertriebener Kursrutsch am prompten Desinteresse potenzieller Verkäufer, das heißt, der Markt trocknet schlagartig aus. Für die besonnenen Anleger sind sinkende Umsätze bei fallenden Kursen ein Signal, »die Hand aufzuhalten«, also zu den niedrigeren Kursen mit dem Kauf zu beginnen.
Auf eine derartige Reaktion der Börsenprofis auf dem Parkett wartete ich an diesem Schwarzen Montag im Oktober 1989 aber lange Zeit vergeblich. Allein die dreißig großen Standardtitel, die im DAX erfasst werden, verloren, gemessen an ihren Kurswerten, auf einen Schlag 70
Weitere Kostenlose Bücher