Greife nie in ein fallendes Messer
Milliarden D-Mark. Und das alles nur, weil in den USA eine gescheiterte Übernahme die Börsianer unsanft aus ihren |48| Träumen gerissen hatte. Selbst wenn man berücksichtigt, wie abhängig die deutschen Finanzmärkte generell von den kapitalkräftigen amerikanischen Anlegern sind, war diese Panikreaktion auf den Wall-Street-Einbruch für jeden Einsichtigen völlig unverständlich. Ich muss wohl auf dem Bildschirm sichtbar entsetzt und enttäuscht gewirkt haben angesichts der nicht endenden Verkaufsflut aus den Reihen der Kleinanleger. Genau dieser Gruppe von Anlegern wollte ich doch durch die Telebörse Informationen für eine erfolgreiche Anlagestrategie vermitteln. Und nun diese offensichtliche Unvernunft!
Tage später, als sich der Rauch verzogen hatte, riefen mich einige Zuschauer an und erklärten mir, warum sie ihre unlimitierten Verkaufsaufträge nicht zurückgezogen hatten. Sie hätten es, aufgeschreckt durch meine Reportage vom Parkett, noch während der Börsensitzung per Telefon vergeblich versucht. Sie seien einfach nicht mehr zu den Sachbearbeitern in ihrem Kreditinstitut durchgekommen. Statt des Wertpapierhandels habe sich der Pförtner gemeldet oder der Sicherheitsdienst. Oder ein verzweifelter Anlageberater, der aber keine Möglichkeit mehr gesehen hatte, im direkten Kontakt mit dem Kollegen an der Börse den Auftrag zu stornieren.
An diesem Montag waren aber nicht nur die Kleinanleger auf der Verkäuferseite zu finden. Als sich mit zunehmender Börsendauer keine Stabilisierung auf dem Parkett andeutete, gaben auch die Manager großer Spezialfonds auf Wunsch ihrer Kunden aus der Industrie oder der Versicherungswirtschaft ihre abwartende Haltung auf und bauten ihre Bestände ab. Als Alternative bot sich den Flüchtenden der Rentenmarkt an. Um bis zu 1,45 D-Mark stiegen die Kurse deutscher Anleihen. Entsprechend legte im Terminhandel der Bund-Future, dem eine fiktive zehnjährige Bundesanleihe mit einer Verzinsung von 6 Prozent zugrunde liegt, um 145 Basispunkte zu. Ein unvorstellbarer Sprung nach oben. An normalen Börsentagen bewegt sich dieser Terminkontrakt, der am Rentenmarkt als Maßstab für Renditeänderungen gilt, nur hinter dem Komma.
In unserer Sendung prophezeite Dr. Wolfgang Röller, der damalige Vorstandssprecher der Dresdner Bank: »Wer heute verkauft, wird |49| eines Tages sicher Lehrgeld dafür zahlen.« Dr. Rolf Breuer, damals der Börsenchef der Deutschen Bank und eins ihrer Vorstandsmitglieder, warnte die Anleger vor panischen Reaktionen: »Es ist nicht einzusehen, dass ein solides deutsches Unternehmen am Montag an der Börse gut 10 Prozent weniger wert sein soll als am Freitag, zumal sich am wirtschaftlichen Umfeld nichts geändert hat.«
Jetzt konnten nur noch die Banken durch massives Gegensteuern die Verkaufsflut stoppen. Alle standen sie unten auf dem Parkett, Hans-Werner Dort, bei der Commerzbank zuständig für die Betreuung großer institutioneller Anleger, die Händler der Dresdner Bank, Günther Burgold von der BHF-Bank, Werner Freckmann von Georg Hauck & Sohn und vor allem der Chefhändler der Deutschen Bank, Klaus Nagel. Was würden sie angesichts der fallenden Kurse tun? Ebenfalls verkaufen? Oder »die Hand drunter halten« und billig einkaufen? Immer wieder schaute ich von meinem Platz auf der Galerie hinunter zu Klaus Nagel, wie er dort unten auf dem Parkett stand, in seinem grauen Anzug, scheinbar desinteressiert gegen die Holztäfelung gelehnt, und das Chaos vor sich beobachtete.
Wenn einer auf dem Parkett die finanzielle Möglichkeit hatte und den Blick für den richtigen Zeitpunkt, die Börse umzudrehen, dann er. Häufig hatte mir Klaus Nagel in den vergangenen Jahren bewiesen, wie wichtig die gute Nase für den günstigsten Zeitpunkt zum Einstieg ist – und ebenso auch, um zu entscheiden, wann man sich vorsichtig zurückhält. »Man darf nie in ein fallendes Messer greifen«, hatte er mich zu Beginn der turbulenten Börseneröffnung an den Oktober-Crash von 1987 erinnert, als ich ihn fragte, warum er die niedrigen Kurse nicht zum Einstieg nutze. Erst müsse sich die Börse austoben. Wer zu früh kaufe, der verschieße sein Pulver sinnlos und werfe gutes Geld schlechtem hinterher.
Immer noch regungslos stand er mit verschränkten Armen neben dem Office der Deutschen Bank auf dem Börsenparkett. Während seine Mitarbeiter die Kundenaufträge ausführten, überwiegend Verkaufsaufträge, tat er gar nichts. Wie der steinerne Gast im Don Giovanni. Aber
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