Greife nie in ein fallendes Messer
der deutschen Wirtschaft, die andere Hälfte vom Staat getragen würden, müsste die Mehrwertsteuer auf 35 Prozent und der Zinssatz auf mindestens 10 Prozent steigen, so die Rechnung eines deutschen Wirtschaftsmagazins.
Die immensen Kosten einer Vereinigung beider deutschen Staaten wurden dem deutschen Bundesbürger von der sozialdemokratischen Opposition Tag für Tag in die Ohren geblasen, um dem Bundeskanzler Helmut Kohl die sichtbare Vorfreude auf den gesamtdeutschen Lorbeerkranz zu vergällen. Schließlich galt es, für die erste gesamtdeutsche Wahl im Herbst des Jahres entscheidende Wählerstimmen im Westen Deutschlands zu sammeln. Zusätzlich rollte sich die |53| Regierungskoalition unter der Führung der Unionsparteien selbst einen weiteren Stolperstein in den Weg: Die mit der DDR vereinbarte Währungsunion würde den Bürgern der DDR für ihre auf den internationalen Finanzmärkten wertlose DDR-Währung die stabile, allseits geschätzte D-Mark bescheren.
Diese Visionen der berufenen und selbstberufenen Schwarzseher stürzten den deutschen Rentenmarkt in tiefste Verzweiflung: Alle DDR-Bürger würden ihre wertlosen Spargroschen in harte D-Mark tauschen und sie sofort in das nächste Kaufhaus im Westen Deutschlands tragen, um endlich das zu kaufen, worauf man jahrzehntelang hatte verzichten müssen. Die Folgen, so die Pessimisten am Rentenmarkt, seien doch mit den Händen zu greifen: Die Inflation würde erst langsam zu traben beginnen und dann sehr schnell in einen wilden Galopp übergehen. Die heute noch so harte D-Mark würde binnen weniger Monate wachsweich. Steigende Zinsen seien die logische Konsequenz.
Diese bösen Vorahnungen, die vor allem aus dem Lager der sozialdemokratischen Wahlkämpfer täglich aufs Neue bestärkt wurden, verunsicherten die deutschen Rentenhändler. Wer auf die typisch deutsche Sparmentalität auch im Osten verwies, auf die Notwendigkeit, gerade wegen der dort zu erwartenden Arbeitslosigkeit, das Geld zusammenzuhalten, der stieß im Rentensaal der Frankfurter Börse auf taube Ohren. Als ob die Bundesrepublik Deutschland auf dem inflationsgeschüttelten südamerikanischen Subkontinent läge, kletterten die Renditen am Frankfurter Rentenmarkt in Richtung 9 Prozent. Mit den explodierenden Zinsen fielen entsprechend die Rentenkurse.
Nicht gerade günstige Vorzeichen für den Aktienmarkt, sollte man glauben. Aber weit gefehlt: Den ganzen Sommer über aalte sich der deutsche Aktienindex DAX, der die dreißig wichtigsten deutschen Aktien abbildet, in ungetrübter Rekordlaune. Zufrieden sahen meine Gesprächspartner auf dem Parkett im Aktiensaal in ihre Auftragsbücher: überall nur Kauforders, Kauforders aus dem Ausland, wohlgemerkt. Während die Bedenkenträger in den deutschen Landen laut die Jammerharfe schlugen, folgten die ausländischen Anleger aus Amerika und Japan, fasziniert von den deutsch-deutschen Umarmungen |54| auf der Berliner Mauer, dem unerschütterlichen Hoffnungsträger Helmut Kohl und setzten auf deutsche Aktien. Wenn ein Volk dieser Welt diese ungeheure Aufgabe einer Vereinigung mit einem maroden kommunistischen Staat werde schultern können, so war in Gesprächen mit amerikanischen und britischen Journalisten immer wieder zu hören, dann seien es die Deutschen mit ihrer dynamischen Wirtschaft, die dank der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor einem zusätzlichen Schub stehen dürfte.
Und noch ein anderes Argument der Optimisten im Frankfurter Börsensaal machte mir Mut. Immer wieder werde man von amerikanischen Kunden auf die politische Situation in der Sowjetunion angesprochen. Komme es im Rahmen der Perestroika Gorbatschows zu einer Annäherung der Kommunisten an das westliche Lager, müsse davon gerade die Bundesrepublik profitieren. Umgekehrt hatte die deutsche Börse in der Vergangenheit unter jeder politischen Erschütterung in der Sowjetunion am stärksten gelitten. Eine fast vergessene Erfahrung, die uns etliche Monate später jäh aus unserer Rekordlaune aufschrecken sollte.
Jetzt aber, Mitte 1990, lag noch kein Schatten auf der Lichtgestalt Gorbatschows, rankten sich große Hoffnungen um die rohstoffreiche Wirtschaftsmacht im Osten Europas. Wegen ihrer Nähe zu diesem Markt habe die deutsche Industrie deutliche Standortvorteile, so die Anleger aus den USA. Folglich müsse man jetzt deutsche Aktien unbedingt im Depot haben. Dass sich der Zusammenbruch der Sowjetunion viel schneller als erwartet und viel tiefgreifender vollziehen
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