Greife nie in ein fallendes Messer
Kleinanleger an jenem 2. Oktober wird von den Börsianern und den Banken angesichts der weltweiten Krisenherde überhaupt nicht geteilt. Die meisten von ihnen erwarten den völligen Einbruch in den nächsten Tagen oder Wochen. Selbst ein durchschnittliches Kurs-Gewinn-Verhältnis von deutlich unter 20 im aktuellen DAX kann die Furcht vor einem weiteren Kursrutsch nicht mindern. Immer häufiger werden Berechnungen der sogenannten Techniker aus den Analyselabors der Kreditinstitute herumgereicht. Diese klopfen das tägliche Auf und Ab der Kurse und Umsätze auf ihre Gesetzmäßigkeiten ab, geben statistisches Zahlenmaterial von den Finanzmärkten in ihre mathematischen Modellrechnungen ein und ermitteln mithilfe ihrer Computer die »richtige« Strategie, die mit höchster Wahrscheinlichkeit den höchsten Gewinn bringt. Will man diesen technischen Analysen jetzt folgen, muss man sich auf eine Höllenfahrt in die Tiefe gefasst machen. Die Prognosen deuten in Richtung 3 200 beim DAX. Aber nicht immer liegen die Techniker richtig, trösten mich die Börsianer, die – wie ich auch – der langfristigen fundamentalen Analyse den Vorrang geben. An den Terminmärkten aber kann man auf die technischen Analysen offensichtlich nicht verzichten, denn ohne die Computer ist man dort völlig überfordert, zu kompliziert sind die Programme, die in atemberaubender Geschwindigkeit Verkäufe mit Käufen kombinieren, an den Aktienmärkten weltweit, den Märkten für festverzinsliche Wertpapiere oder an den Devisenmärkten.
Kein Wunder, dass angesichts dieser weltweiten Unruhen der deutsche Terminmarkt wackelt wie ein Lämmerschwanz. Die Schwankungen nach beiden Seiten nehmen ein ungewöhnliches Ausmaß an. Irgendetwas läuft entsetzlich schief in der internationalen Bankenwelt. Gerüchte von milliardenschweren Schieflagen großer Hedgefonds mit furchtbaren Folgen für ihre Kunden machen schon wieder die Runde.
Das Zentrum des Orkans aber hat sich verschoben. Nicht mehr die Krisenherde in Südostasien, in Russland oder in Südamerika stehen im Mittelpunkt der Diskussionen, vielmehr sind es jetzt die amerikanischen Hedgefonds. Uralte Ängste ersticken jeden Ansatz einer Kurserholung.
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Kapitel 6: Keine Chance ohne Risiko. Das plötzliche Erwachen am Terminmarkt
»Zum Schluss kommen«, mahnte mich die Regie aus unserem Berliner n-tv-Studio über meinen Miniempfänger im linken Ohr, »in 30 Sekunden ist die Sendezeit für Frankfurt vorbei.« Ein kurzer Blick auf meine Funkuhr auf dem Monitor bestätigte mir diese Zeitansage. Tatsächlich waren die neun Minuten, die ich für das Gespräch mit Karl-Egmont Niem vom Bankhaus Hauck & Aufhäuser eingeplant hatte, nahezu ausgeschöpft.
Manchmal dauern selbst kurze Drei-Minuten-Interviews eine Ewigkeit, aber in Zeiten, wie wir sie beispielsweise am 9. Oktober 1998 erlebten, vergehen die Minuten wie im Fluge. Über die unerwarteten Zinssenkungen in den USA hatte ich mit dem Rentenmarktspezialisten Niem gesprochen, über die Blauäugigkeit einiger Politiker aus dem Kreis der neuen Bundesregierung, in Deutschland nach amerikanischem Vorbild eine Zinssenkung zu fordern – die Konjunktur in Deutschland zog leicht an, während sie in den USA auf dem Weg nach unten war –, wir hatten über die politische Unabhängigkeit der Frankfurter Bundesbank und der kommenden Europäischen Zentralbank gesprochen und den möglichen Trugschluss, über eine Zinssenkung in Deutschland die überwiegend strukturell bedingte Arbeitslosigkeit wirkungsvoll bekämpfen zu können. Schließlich lagen die Amerikaner mit ihrem Zinsniveau deutlich über dem deutschen und hatten dennoch keine Arbeitsmarktprobleme.
Aber trotz der Zeitnot wollte ich unbedingt noch auf ein Thema zu sprechen kommen, das mir unter den Nägeln brannte, nämlich die plötzliche Risikoscheu der Kreditinstitute weltweit. Gerade die Kreditsuchenden, die am dringendsten Kapital brauchten, die Schwellenländer in Asien und Südamerika beispielsweise und die |119| Unternehmen in diesen Regionen, sie alle bekamen offenbar nur noch Geld geliehen, wenn sie in ihrer Not bereit waren, unerträglich hohe Zinsaufschläge zu akzeptieren, die sie in ihrer ohnehin schon verzweifelten Situation noch schneller in Richtung Abgrund treiben würden.
Jahrelang hatten namhafte Kreditinstitute scheinbar unbesehen die Millionen wie ein billiger Jakob verteilt, ohne dass sich ihre innerbetrieblichen Kontrolleure oder die Börsen sonderlich darüber aufgeregt
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