Greife nie in ein fallendes Messer
einmal hemmungslos überzogen, zum Leidwesen der Regie in Berlin. Jetzt mussten die armen Kollegen in den nachfolgenden Sendungen versuchen, die Zeit wieder aufzuholen. Ich versprach Besserung. Dass mein Gast nur wenige Minuten später schon mit seiner Prophezeiung Recht bekommen würde, konnten wir beide in diesem Augenblick nicht ahnen.
Bis zur letzten Schaltung an diesem Tag des 9. Oktober, um 16:10 Uhr, ist noch Zeit genug, den üblichen Cappuccino im Börsen-Bistro nebenan zu nehmen. Ein kurzer Blick noch auf die Monitore der Nachrichtenagenturen, dann ist nach sieben Live-Schaltungen eine längst verdiente Pause angesagt. Schon im Mantel sehe ich plötzlich auf Reuters, wie der Bund-Future für Dezember, dieses wichtige Indiz für die Kursrichtung bei deutschen Anleihen, der in Frankfurt und in London an der Terminbörse gehandelt wird, schlagartig knapp 200 Ticks verliert. Offensichtlich hat sich an der Terminbörse jemand vertan, beruhige ich mich selber, gleich wird wahrscheinlich die falsche Eingabe korrigiert werden.
In diesen hektischen Tagen sind auch am Rentenmarkt starke Kursschwankungen keine Seltenheit. Um 10 oder gar 20 Punkte kann der Bund-Future schon einmal steigen oder fallen. In den letzten Wochen ist er bis auf über 115 Prozent scheinbar unaufhörlich gestiegen, sind die Renditen für festverzinsliche Anleihen mit Laufzeiten von acht bis 15 Jahren zum Teil auf unter 4 Prozent gefallen. Diese starke Nachfrage nach deutschen Titeln hat auch keinen von uns überrascht, denn angesichts der Krisen in Südostasien, Mittel- und Osteuropa und zuletzt auch noch in Südamerika sind vor allem die Anleger offensichtlich in panischem Schrecken vor dem freigelassenen |122| Flaschengeist »Risiko« aus jenen bedrohten Finanzmärkten in die sicheren Häfen, das heißt an die Wall Street oder nach Deutschland geflohen. Selbst bei den niedrigen Renditen in Deutschland fühlt man sich hier besser aufgehoben als in den hochverzinslichen südamerikanischen oder mittel- und osteuropäischen Anleihen. Hinter jeder noch so verlockenden Chance vermutet der verstörte Anleger den drohenden Abgrund des Risikos.
Je größer die Chance, desto höher ist natürlich das Risiko. Diese Einsicht hätten die Anleger auch schon etwas früher gewinnen können. Aber immer wieder verstellt die Aussicht auf fette Gewinne den Blick auf die Gefahr des Scheiterns. Ein überraschend menschlicher Zug im nüchternen Geldgeschäft, der durchaus etwas mit Gier zu tun hat – dem wohl größten Feind einer vernünftigen Anlagepolitik –, der aber selbst nach leidvollen Erfahrungen wohl nie aus den Köpfen verschwinden wird, wie im Jahr 2000 der Untergang des Neuen Marktes und im Jahr 2006 die Subprimekrise am amerikanischen Immobilienmarkt zeigten.
Aber heute, in der letzten Phase der Börse am Rentenmarkt, steigt der Bund-Future nicht, im Gegenteil, er fällt! Er stürzt regelrecht ab in Richtung 112 Prozent. »Nein, das ist keine falsche Eingabe gewesen«, bestätigt mir ein Kursmakler für festverzinsliche Wertpapiere völlig ratlos, im fast schon leeren Händlersaal, direkt neben unserem Minibüro auf der Galerie der Frankfurter Börse. »Irgendjemand auf dieser Welt, vermutlich eine ausländische Adresse, womöglich wieder ein Hedgefonds, verkauft wie ein Verrückter den Dezember-Terminkontrakt des Bund-Futures und prügelt damit die Anleihenkurse in den Keller, treibt also die Renditen nach oben.« Das ist aber völlig widersinnig, denn die Börse setzt auf weiter sinkende Zinsen, also auf steigende Kurse am deutschen Rentenmarkt! »Wenn das in diesem Tempo weitergeht, drehen wir hier morgen das Licht aus, dann fällt der Bund-Future um weitere 200 Punkte bis auf 110 Prozent«, orakelt ein Händler, der ganz gewiss nicht zu den Pessimisten zählt.
»Wer verkauft da, und warum?« Klare Antworten gibt es nicht, nur Vermutungen. Das sieht eindeutig nach einer Hinrichtung aus. Wahrscheinlich wird jemand gezwungen, seine hinterlegten Sicherheiten für kreditfinanzierte Wertpapiergeschäfte am Terminmarkt, |123| also seine Margins, drastisch zu erhöhen oder seine Kredite sofort zurückzuzahlen. Das heißt, er muss Kasse machen, ob das nun bei diesen angeschlagenen Börsen und diesen niedrigen Kursen richtig ist oder nicht. Für mich wäre dies wieder einmal der Beweis, wie riskant es ist, auf Kredit an den Wertpapiermärkten zu spekulieren, ganz besonders an den Terminmärkten, wo die Zeit gegen den Anleger arbeitet.
Abends in
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