Grenzen setzen – Grenzen achten
selber gegenüber zugeben und akzeptieren, dass auch unsere Fähigkeiten begrenzt sind. Nicht jeder kann gut Menschen ansprechen. Unsere Fähigkeit, andere zu führen, Konflikte zu lösen, Probleme anzupacken, ist möglicherweise wirklich nicht so ausgeprägt wie bei diesem oder jenem anderen. Für viele ist es auch nicht leicht, zu ihren finanziellen Grenzen zu stehen. Sie haben bisher im Urlaub großzügig Geld ausgegeben. Jetzt müssen sie auf einmal sparen und vor anderen eingestehen, dass sie sich diese oder jene Fahrt einfach nicht mehr leisten können. Das Eingeständnis unserer Grenzen tut weh. Und es erfordert Demut. Demut meint den Mut zur Wahrheit, den Mut, hinabzusteigen in die Realität unseres Leibes und unserer Seele, in die Realität unserer psychischen Konstitution.
Wir möchten am liebsten die Augen verschließen vor unseren Grenzen und gleichen darin dem Blindgeborenen im Evangelium (Joh 9,1–12). Wir identifizieren uns verständlicherweise viel lieber mit dem Idealbild, das wir von uns haben: mit dem Ideal des freundlichen, hilfsbereiten Menschen, der gerne zuhört und einspringt, wo Not am Mann ist, oder mit dem Ideal des belastbaren Mitarbeiters, dem man viel zumuten und zutrauen kann, der keine Aufgabe ablehnt oder aus Angst vor etwas zurückschreckt. Wir identifizieren uns mit dem Bild des Menschen, der alles im Griff hat und alles schafft, was er sich vorgenommen hat, des coolen, erfolgreichen jungen Mannes, der dynamischen und selbstbewussten Frau. Doch diese Identifikation mit unserem Idealbild macht uns blind unserer eigenen Wirklichkeit gegenüber. Wir leben oft schon lange über unsere gesundheitlichen Verhältnisse, bis uns der Leib mit allem Nachdruck und unmissverständlich aufzeigt, dass wir uns das nicht länger leisten können. Da ist zum Beispiel jene Lehrerin, die meinte, sie sei für ihre Schule unentbehrlich. Sie klagte zwar, dass ihr alles zuviel sei, hatte aber nicht den Mut und die Entschiedenheit, auf die Signale ihres Leibes und ihrer Seele zu hören. Daraufhin „streikte“ ihre Haut. Die Konsequenz: Sie musste ein ganzes Jahr aus dem Schuldienst ausscheiden, um ihre wunde Haut zu pflegen und zu heilen. Weil sie ihre eigene Grenze nicht akzeptierte, zeigte ihr der Leib mit Gewalt ihre tatsächliche Situation auf und verwies sie in ihre Grenzen. Sie musste nun viel länger von der Schule wegbleiben, als wenn sie ihre Stundenzahl rechtzeitig etwas reduziert hätte.
Die Blindenheilung
Wer allzu lange von seiner eigenen Wirklichkeit wegsieht und die Realität ignoriert, der wird allmählich blind für sie. Den Blindgeborenen, den Jesus heilt, können wir uns vorstellen als einen Menschen, der von Geburt an seine Wirklichkeit nicht anschauen konnte, weil sie zu grausam war. Das Wegschauen war für seine Seele überlebensnotwendig. Als Kind hätte er es nicht verkraftet, die Brutalität und Trostlosigkeit seines Daseins anzuschauen. Doch irgendwann schränkt das Verdrängen das Leben ein. Und dann erzwingt der Leidensdruck die Suche nach Heilung. Ich habe eine Frau erlebt, die ihre Kindheit immer beschönigt hat. Doch irgendetwas war an ihr, das sie immer wieder in Konflikt mit ihren Mitmenschen brachte. Erst als sie sich eingestehen konnte, dass ihre Kindheit durch die Armut nach dem Krieg trostlos war, suchte sie nach wirklicher Hilfe. Vorher meinte sie, die anderen seien schuld an ihren Problemen. Sie konnte lange ihre Kindheit nicht so sehen, wie sie wirklich war. Das hätte ihr den Boden entzogen. Die Idee einer heilen Kindheit war das einzige, an dem sie sich festhalten konnte. Man sollte das nicht vorschnell und pauschal verurteilen. Manchmal bleibt uns keine andere Strategie, als die Augen zu schließen. Kinder schließen manchmal die Augen und meinen dann, die anderen könnten sie nicht sehen, sie wären dann für sich allein. Sie tun es oft, wenn sie etwas getan haben, was ihnen Leid tut und was die anderen nicht sehen sollen. Doch die Augen zu schließen, ist keine Lösung für reife Menschen. Wenn wir permanent die Augen schließen, dann werden wir irgendwann überhaupt nichts mehr sehen.
Jesus heilt den Blinden, indem er auf die Erde spuckt, auf den Humus. Er macht einen Brei aus dem Dreck und seinem Speichel. Diesen Brei schmiert er dem Blinden auf die Augen,gleichsam als wollte er damit sagen: „Söhne dich aus mit dem Unansehnlichen, dem „Dreck“, der auch in dir ist. Nimm an, dass du von der Erde genommen bist und dass deine Erdenschwere dich
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