Grenzen setzen – Grenzen achten
drückt. Nur wenn du deine Erdhaftigkeit annimmst, nur wenn du dich mit dem Schmutz in dir aussöhnst, kannst du wirklich sehen, kannst du die Wirklichkeit so sehen, wie sie in der Realität ist.“ Jesus zeigt mit dem Brei aus dem Humus, aus der Erde, was „humilitas“, „Demut“, ist: der Mut, die eigene Erdgebundenheit anzunehmen, das Schmutzige in sich wahrzunehmen und sich damit auszusöhnen. Dem Menschen gelingt es aber nur, seinen eigenen „Dreck“ anzunehmen, sich mit seinen Schattenseiten auszusöhnen, wenn in den Dreck die Liebe und Zärtlichkeit hineingewoben ist, die Jesus mit seinem Speichel dem Blindgeborenen erwiesen hat. Jesus hat ihm liebevoll den Brei aus Dreck und Speichel über die Augen geschmiert und ihm damit vermittelt: „Es ist gut so, wie du bist. Der Dreck darf auch sein. Den musst du auch liebevoll anschauen.“ Humilitas hat auch mit Humor zu tun. Wer sich annimmt, wie er ist, der ist gelassen. Er vermag über sich selbst zu lachen. Er hat Humor. Und Demut meint Bodenhaftung: Ich stehe mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich hebe nicht ab und ergehe mich nicht in Luftschlössern. Wer auf dem Boden steht, der steht auch zu seinen Grenzen. Er weiß, dass er von der Erde genommen ist – und daher begrenzt in seinen Möglichkeiten.
Mut zur Wahrheit
Es braucht Mut, meine Lebensgeschichte offen und ehrlich anzuschauen und mir meine Verletzungen einzugestehen. Die Wunden meiner Kindheit zeigen mir deutlich auf, dass ich von mir keine Wunderdinge erwarten darf. Die Wunden können zwar verwandelt werden und heilen, aber nur, wenn ich sie mireingestehe. Und zunächst verlangt das Eingeständnis meiner Verletzungen, dass ich meine Grenzen akzeptiere. Wenn ich mich als Kind verlassen fühlte, dann werde ich als Erwachsener bei jedem Abschiednehmen daran erinnert. Darum wird es mir schwer fallen, Abschied zu nehmen. Wenn ich das weiß und als zu mir gehörende Wirklichkeit eingesehen habe, dann darf ich mich nicht ständig damit überfordern, etwas Neues zu suchen. Ich brauche Geborgenheit, damit das innere Kind wachsen kann und stabil genug wird, Abschiede zu wagen. Die Verletzungen decken mir Grenzen auf, die ich nicht überspringen darf. Wenn ich meine Augen davor verschließe und mich immer wieder zwinge, über meine Grenzen hinauszugehen, werde ich immer wieder scheitern. Weil ich selbst es nicht wage, die Augen zu öffnen, werden mir im Scheitern die Augen schmerzlich geöffnet.
Im beruflichen Umfeld erleben wir immer wieder Menschen, die sich weigern, ihre Grenzen zu akzeptieren. Jeder sieht, dass sie sich schwer tun, die Anforderungen ihrer neuen Stelle zu erfüllen. Doch sie selber meinen, sie seien die fähigsten Mitarbeiter, die man sich denken kann. Manchmal gehen sie zum Chef und fordern eine Lohnerhöhung, weil sie doch überdurchschnittlich gut arbeiten würden. Es ist schwer, diesen Menschen ihre Grenzen vor Augen zu halten. Jeder im Betrieb spürt, dass dieser Mitarbeiter überfordert ist. Er glaubt dagegen, der leistungsstärkste Mitarbeiter zu sein. Offensichtlich braucht er die Blindheit, um seiner eigenen Durchschnittlichkeit nicht ins Auge sehen zu müssen. Da tut jemand not, der ihm wie Jesus klar und eindeutig die Wahrheit vor Augen hält und dabei doch liebevoll ist. Das könnte ihm helfen, sich damit auszusöhnen, dass er auch nur von der Erde genommen und kein Himmelsstürmer ist.
In der Begleitung ist es häufig eine mühsame Arbeit, den anderen zu ermutigen, sich mit seinen Grenzen auszusöhnen. Es gibt viele, die ihre Wirklichkeit nicht wahrhaben wollen. Sie sehen die Probleme, die sie haben, in ihren schwierigen Beziehungen begründet. Ihre Sicht ist: Weil die anderen so wenig Verständnis für sie haben, weil die anderen so unreif und eng sind, deshalb geht es ihnen so schlecht. Weil die anderen sich ihnen zu wenig zuwenden, vermögen sie nicht, in Frieden mit sich zu leben. Sie konstruieren eine Theorie über ihren Zustand, um der eigenen Wirklichkeit auszuweichen. Und sie halten sich an diesem Konstrukt ihrer Vorstellung fest, auch wenn ein Beobachter schnell herausfinden wird, dass immer anderen die Verantwortung für ihren Zustand zugeschoben wird, statt dass die Betreffenden selbst die Verantwortung dafür übernehmen. Doch sobald der Begleiter seine Beobachtungen und Gefühle mitteilt, versucht der Begleitete entweder, alles so zu deuten, dass es in sein eigenes Selbstbild passt, oder aber er findet neue Gründe, um sein Verhalten zu rechtfertigen und
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