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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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aufschlug mit seinem weltmännischen Charme.
    »Du bereitest dich hier auf die Rente vor wie Gott in Frankreich«, sagte er, als Jochen aufgelegt hatte.
    Der lachte. »Wenn dies Frankreich wäre, dann wäre vieles einfacher. Zum Beispiel gäbe es ein funktionierendes Telefonnetz.« Er deutete auf sein Mobilgerät. »Und eine«, er senkte die Stimme, damit die Frau ihn nicht hörte, »sagen wir mal, etwas anpassungsfähigere Mentalität. Die Vorpommern sind ein stures Völkchen.«
    Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür. Herein kam ein stämmiger Mann in Cordhose und kurzärmeligem Hemd, rotes Gesicht, das Haar unter einer speckigen Schirmmütze versteckt.
    »Ah, da ist er ja. Darf ich dir Uwe Jahn vorstellen?« Jochen kam hinter dem Schreibtisch hervor, und Hajo stand auf. Er und Uwe schüttelten sich die Hand.
    »Hans-Jürgen Walther mein Name. Hajo unter Jagdfreunden.«
    »Jahn. Uwe.« Der Mann hatte einen stechenden Blick. Der war bestimmt bei der Stasi, dachte Hajo. Er machte sich nichts vor. Er gehörte keineswegs zu den Leuten, die über die Wende in Freudentränen ausgebrochen waren oder in der Frankfurter Innenstadt spontan den Ossis Hundertmarkscheine in die Hand drückten, wenn die aus ihren putzigen Trabbis herauskrabbelten. Diese Typen waren ihm unheimlich, die hätte man ruhig hinter ihrer Mauer lassen können.
    »… mein bester Jagdführer«, sagte Jochen gerade. »Seine Pacht ist eine der wildreichsten hier in der Gegend. Er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Denn Sie wissen ja«, er wandte sich an den Jagdführer, »nun ist auch hier der Kunde König.« Er ließ sein meckerndes Lachen ertönen. »Uwe wird dir dein Quartier zeigen, einfach und authentisch, direkt neben der Jagd. Meine Herren, bleibt mir nur noch zu sagen: Waidmanns Heil!«
    »Du kommst nicht mit?« Hajo war irritiert. Aus irgendeinem Grund hatte er angenommen, Jochen würde persönlich dabei sein.
    Der zeigte auf sein Funktelefon, das schon wieder klingelte. »Ich würde ja gern, aber das Geschäft ruft.« Er beugte sich vor und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Muss ein Anwesen auf Rügen in Augenschein nehmen. Wer zu spät kommt, du weißt schon, frei nach Gorbatschow.«

28. Juni 1992, Szczecin
Westpommern, Polen
    Auf den ersten Blick herrschte am Bahnsteig Normalbetrieb. Marius sah sich um, er hatte ein paar Stunden auf der Bank im Halbschlaf verbracht. Ein Regionalzug hielt. Junge Frauen eilten auf hohen Absätzen an ihm vorbei. Ihre verächtlichen Blicke prallten auf die Gestalten, die in Gruppen herumstanden oder -saßen. Grell geschminkte Münder wurden zu schmalen Strichen. Ein Trupp Schüler oder Studenten stieg aus und fing sofort an, die Umstehenden zu beschimpfen.
    Marius steckte sich eine Zigarette an und stand auf. »Lasst euch nicht provozieren, dann passiert nichts«, sagte er zu den Männern und schob sich zwischen sie und die Polen. Er kannte nur zwei aus der Gruppe, sie machten ohne zu zögern einen Platz für ihn in der Runde frei. Die Polen zogen ab, Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Marius genoss die Wärme der Morgensonne auf der Haut. So standen sie eine Weile herum, rauchten schweigend und warteten.
    Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Und da waren sie, Vater und Sohn, heute früher als sonst. Marius war schon einmal mit ihnen ins Geschäft gekommen. Sie kannten sich gut aus im Gelände. Aber ihr Preis war zu hoch. Gestern hatte er den ganzen Nachmittag vergeblich gewartet, keiner der anderen Reiseführer war aufgetaucht. Er hatte wertvolle Zeit verloren. Jetzt wollte er die Gelegenheit auf keinen Fall verpassen.
    Marius ging den beiden Polen mit energischen Schritten entgegen, nutzte seine Autorität, die anderen Wartenden machten ihm Platz. Er probierte die üblichen Handzeichen, auch die Antwort wurde mit den Händen gegeben. Der Preis ließ ihn zögern, er hörte die anderen hinter seinem Rücken fluchen. Kaum jemand war bereit, so viel zu zahlen. Marius hatte noch genug Geld übrig. Zwar waren die Ohrringe für Adriana nicht billig gewesen, aber Fußbälle waren ausverkauft, wegen der Europameisterschaft. Er schlug ein, der Treffpunkt wurde geflüstert, immer noch derselbe, ein kleines Hotel an der Ausfallstraße Richtung Südwesten.
    Und weiter schoben sich die beiden durch die Gruppen, der Sohn zeigte mit den Fingern ein V: Zwei können noch mit. Den meisten war es zu teuer, sie konnten sich nicht entscheiden, rechneten, berieten sich leise. Aus dem Dunkel der Bahnhofshalle

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