Grenzfall (German Edition)
kamen zwei Neue geschlendert, unverkennbar Brüder, mit heller Haut und Sommersprossen, vielleicht aus dem Norden. Der Ältere erfasste die Situation mit einem Blick, ging auf die Polen zu, begann zu verhandeln. Der andere stand daneben und sagte kein Wort. Wieder ein Handschlag.
Dann ging alles ganz schnell. Innerhalb weniger Sekunden brach Panik aus. »Miliz!«
Wie von Geisterhand waren die beiden Polen verschwunden, alle anderen rannten durcheinander. Marius zwang sich zu langsamen Bewegungen. Zielstrebig und ohne hinzusehen ging er an den herausstürmenden Polizisten vorbei ins Bahnhofsgebäude, weiter in die Männertoilette und schloss sich in einer Kabine ein. Er sah auf die Armbanduhr. Dann zog er sein Notizbuch aus der Tasche, nahm Papier von der Rolle, wischte damit den geschlossenen Klodeckel ab und setzte sich hin.
Eine Stunde später schloss er wieder auf, wusch sich die Hände, zog seinen Kamm aus der Tasche, machte ihn nass und kämmte sich ausgiebig die Haare und den Schnurrbart. Dann ging er durch die Halle nach draußen. Als Erstes traf er den jüngeren der beiden Brüder, er stand herum wie eine Straßenlaterne. Ein Wunder, dass er den Polizisten entkommen war. Er wirkte orientierungslos.
»Was ist passiert?«, fragte Marius auf Rumänisch.
Der junge Mann zuckte zusammen. »Mein Bruder Ion. Er ist verhaftet worden.«
Marius legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Er wird sich zu helfen wissen. In ein paar Tagen ist er wieder draußen. Aber du solltest hier nicht lange so rumstehen.«
Unsicherer Blick, rote Flecken auf den Wangen. »Ich kann doch nicht …«
Marius deutete auf die anderen Männer, die wieder in der Sonne standen und rauchten, als hätte es nie eine Razzia gegeben. »Es gibt Leute, die deinen Platz gerne übernehmen würden. Ich sage dir, du kannst genauso gut drüben auf ihn warten, wo du ein Bett und jeden Tag eine warme Mahlzeit hast. Ich weiß, wovon ich rede.« Der hatte Angst zu gehen und Angst zu bleiben. Nun, das musste er mit sich alleine ausmachen. Marius drückte noch einmal die schmale Schulter und schlenderte weiter zu den Männern aus Turnu Severin.
Ein alter Mann, der Vater einer Cousine seiner Frau, nahm ihn am Arm und zog ihn beiseite. »Heute ist keine gute Nacht, um über die Grenze zu gehen!«, flüsterte er eindringlich.
Marius schob die Hand des Alten sanft von seinem Arm. »Warum nicht?«, fragte er.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nicht gut, du wirst sehen. Warte lieber und geh morgen mit uns.«
Marius ließ sich die Sache kurz durch den Kopf gehen. Dachte an Adriana, die jeden Tag aufstand mit dem Wunsch, er möge bald zurückkehren. Dachte an seine Frau, die gar nicht mehr aufstand. An Ştefan und Claudiu, die eine starke Hand brauchten. Und dann dachte er an das Kreuz auf dem Grab seiner Mutter, umgeworfen, mit Farbe beschmiert. Für Ammenmärchen hatte er keine Zeit. »Ich gehe heute«, sagte er mit fester Stimme und ließ den jammernden Alten stehen.
Natürlich war es ein Risiko, sich für so viel Geld zwei Fremden auszuliefern, die ihn über die Grenze führten. Doch ihm blieb keine andere Wahl. Marius hatte fest vor, sich dieses Mal Notizen zu machen und in Zukunft einen eigenen Grenztransfer für seine Leute aus Turnu Severin zu organisieren. Nicht ungefährlich, aber machbar für einen, der schon ein Bleiberecht in Deutschland hatte. Er war sicher, dass er für den richtigen Preis jemand Passenden finden würde.
Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und fuhr herum, dachte kurz, es wäre noch mal der Alte, da stand der Träumer mit den Sommersprossen.
»Hast du was dagegen, wenn wir zusammen gehen?«, fragte er und hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße Nicu. Nicu L ă c ă tu ş .«
Marius sah ihm kurz in die Augen, dann schlug er ein.
28. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Das Jagdbuch lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Küchentisch des Zöllnerhofs. Das alte Gehöft stand im Zentrum seiner Jagd, und Uwe kannte die Bauern seit vielen Jahren. Dieser Zipfel Vorpommerns war immer Grenzgebiet gewesen und der Hof ein abgelegener Außenposten, bis zur Wende Teil der Peltzower LPG. Das Dorf lag gut fünf Kilometer südwestlich. Edwin Müller und sein Sohn Klaus betrieben die Landwirtschaft auf den umliegenden Feldern seit der Wende allein, die Mutter war schon ein paar Jahre unter der Erde. Stück für Stück mussten sie einsehen, dass der einzelne Bauer im Kapitalismus nichts
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