Grenzfall (German Edition)
unserer – visibility, wie man so schön sagt. Linke Themen zu lancieren ist kein Spaß in Krisenzeiten.«
»Damit habe ich kein Problem.« Mattie steht auf. »Wo kann ich mich hinsetzen, und wer kann mir die aktuellen Fälle zeigen?«
Volker bedeutet ihr, sich wieder zu setzen. »Immer schön sutje.«
»Kommst du aus dem Norden?«
»Hamburg.«
»Harmsdorf.«
»Am See. Da war ich früher immer mit meinen Eltern im Urlaub.«
»Das war jeder mal.«
Sie lächeln sich an. Ein schönes, warmes Verbündetenlächeln.
»Hier ist dein Arbeitsvertrag. Lies ihn dir gut durch, bevor du unterschreibst. Drei Monate Probezeit, nicht nur für uns, auch für dich. Vielleicht gefällt es dir hier nicht.«
Mattie liest. »Einheitslohn? Du verdienst genauso viel wie ich?«
»Warum nicht?« Er zieht an seinem Silberhalm. Offensichtlich kommt nichts mehr raus. Vorsichtig stellt er das Kännchen ab. »Weißt du, mein Alter hat dreißig Jahre lang malocht wie ein Blöder. Bauunternehmer, Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, das ganze Programm. Meine Mutter ist mit einem Gemeinschaftskundelehrer abgehauen. Mit sechzig dann der Herzinfarkt. Aus. Und plötzlich hatte ich das ganze Geld. Ich hab das Haus hier gekauft, als der Senat es verscherbeln wollte. Es gehört jetzt dem Mietersyndikat. Mit dem Rest habe ich eine Stiftung gegründet, die Juristen aus dem Süden Stipendien bezahlt. Verstehst du? Ich mache die Arbeit, die ich will. Ich lebe in einer Hausgemeinschaft mit Leuten, die mir nahestehen. Wenn ich freihabe, gehe ich segeln. Das ist der totale Luxus. Mehr brauch ich nicht.«
Mattie, die Lebensmodellforscherin, betrachtet den Anwalt wie das letzte Exemplar einer seltenen Spezies, von der man lange glaubte, sie sei ausgestorben. Höchst interessant.
Draußen macht jemand Musik.
»Wie auf dem Rummel ist das hier in letzter Zeit.« Volker schließt das Fenster. Mattie geht zu ihm, den unterschriebenen Vertrag in der Hand. Ein Mann mit einer Trompete, ein Junge mit einem Akkordeon. Könnte der Schwager von Liviu sein. Vielleicht auch nicht.
»Gibt es eigentlich viele, äh …« Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Zigani? Liviu hat das Wort benutzt, aber ihr will es nicht über die Lippen. Zu besetzt auf Deutsch.
Volker ist ihrem Blick gefolgt. »Roma?«
Sie nickt.
Volker überlegt. Mattie gefallen diese langen Pausen, die er macht. Kein Gelaber. »Für den Kosovo besteht ein Beschluss zur Abschiebung. Aber es kommen immer mehr Familien aus Tschechien und Rumänien, auch aus Ungarn. Dort herrschen die Faschisten. Es gibt wieder Pogrome.«
»Ach komm.« Warum hat sie davon noch nichts gehört?
»Warum du davon nichts weißt?« Er deutet nach draußen. »Das sind Leute, die keine Lobby haben. Kein Nachrichten-Material. Dein Job, Mattie Junghans.«
15. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Adriana drückt den Mopp im Sieb des Plastikeimers aus, so fest sie kann. Nicht zu nass wischen. Sonst rutschen die Leute aus. Das hat Darek ihr mehrmals gesagt, ansonsten war er zufrieden.
Sie muss jeden Tag ein anderes Treppenhaus putzen, so kommt sie nach und nach in alle drei Flügel. Heute ist es Haus Seeschwalbe. Seltsame Namen: Möwe. Austernfischer. Über jedem Eingang ein Bild des Vogels. Seeschwalbe ist das letzte Treppenhaus im linken Seitenflügel, die Fenster in Richtung der Garagen. Auf jedem Absatz bleibt sie stehen, hält sich kurz den Rücken, als müsse sie ausruhen, ein schneller Blick nach draußen. Dann kommen die Namensschilder an die Reihe. Jede Tür, vier auf einem Stockwerk. Manche sind mit der Hand geschrieben, und Adriana kann die Schrift nicht entziffern. Das macht nichts. Gestern nach der Arbeit hat sie den ganzen Nachmittag gewartet, doch der Wagen kam nicht zurück. Sie saß im Schatten einer Birke und hat Sonnenblumenkerne gegessen. Auf der Lauer. Sie gibt nicht auf. Jetzt nicht mehr.
Nächstes Stockwerk. Blick aus dem Fenster. Da kommt der Pritschenwagen! Er fährt direkt zu der Garage, die sie schon kennt. Adriana sieht von oben zu, wie der Mann aussteigt und das Tor öffnet, dann steigt er wieder ins Auto. Der Mörder. Ganz klein von hier oben. Sie könnte ihn zerquetschen. Ohne Eile räumt sie ihre Putzsachen zusammen und geht die Treppen hinunter. Sie wird später hier weitermachen. Wenn sie es hinter sich hat.
Ohne das geschlossene Garagentor zu beachten, geht sie in die Putzkammer, stellt den Eimer ins Regal. Den Kittel behält sie an. Dann stellt sie sich hinter
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