Grenzfall (German Edition)
verloren?«
»Als Vertreterin der Gemeinde Fichtenberg fordere ich Sie auf, sofort zu gehen. Ich rufe sonst die Polizei.« Sie zieht ihr Handy aus der Tasche.
Er taxiert sie abschätzend. »Also gut. Ich beuge mich dem stärkeren Geschlecht. Wir haben sowieso, was wir brauchen. Alles klar, Maik?«
Hinten steht ein Mann mit einer Videokamera. »Alles klar, Thilo.«
»Und vergesst nicht: www Punkt npd Minus mv Punkt de. Heute Abend könnt ihr euch online sehen!«
Das Podest ist leer bis auf den Elefanten. Der Mann verschwunden wie ein Spuk.
Gesines Wut klingt langsamer ab. Welche Unverfrorenheit! Und niemand schreitet ein. Sie blickt sich um. Längst nicht nur die Jungen und Mädchen haben sich hier untergestellt. Sie versucht in den Gesichtern der Erwachsenen zu lesen. Sind sie so abgestumpft, dass es ihnen egal ist, wer ihren Kindern eine Gehirnwäsche verpasst? Oder sind sie selbst NPD-Wähler? So kann es jedenfalls nicht weitergehen. »Ich informiere die Schulleitung. Wenn dieses Video online geht, werden die Persönlichkeitsrechte von Minderjährigen verletzt.« Sie wendet sich zum Gehen.
»Frau Matthiesen!« Der Lehrer. Jetzt ist er also aufgewacht. Ein bisschen spät. »Bitte – ich wusste zunächst gar nicht, dass dieser Mann von der NPD –«
»Herr Friedrichs! Sie als Lehrer haben Vorbildfunktion. Zivilcourage ist eine Bürgerpflicht. Mitläufer haben wir schon zu DDR-Zeiten genug gehabt.«
»Uih! Hört, hört!« Gesine ignoriert das Gejohle und geht am Einkaufszentrum vorbei in Richtung Pfarrhaus. Dieses Telefonat wird sie nicht von ihrem Handy aus führen. Sie wird die Antwort der Schulleiterin mitschneiden. Und im Zweifelsfall an die Presse –
»Du musst mir helfen!« Jahn steht hinter seiner Garage und presst sein Handy ans Ohr. Macht den Eindruck, als wäre er in großer Bedrängnis. »Also gut, ich warte auf deinen Anruf.«
Gesine will nicht so tun, als hätte sie ihn nicht gesehen. »Herr Jahn! Alles in Ordnung?« Er zuckt zusammen und starrt sie an. »Sie sind ja ganz grün im Gesicht.«
»Frau Pastorin«, stammelt er. »Ich –«, und bricht wieder ab. Der Mann hat doch etwas auf dem Herzen. Dem muss man eine ganze Hand reichen, keinen kleinen Finger.
»Herr Jahn, ich würde Ihnen gern helfen. Möchten Sie einmal vorbeikommen? Ist etwas mit Ihren Kindern?«
»Nee, Frau Pastorin.« Sie sieht, wie er versucht, sich am Riemen zu reißen. »Alles in Ordnung. Wat mutt, dat mutt.«
Schon wieder dieser olle Spruch. Manchmal wünscht sich Gesine, sie wäre katholische Pfarrerin. Eine absurde Vorstellung, gewiss. Aber die Beichte ist schon ein nützliches Sakrament. Sie könnte den Menschen die Last von den Schultern nehmen. Erlösung bringen. Doch letztlich muss eben jeder zu dem stehen, was er getan hat. Es hat keinen Zweck, die Schuld bei anderen abzuladen.
So wie es diese Hetzer von der NPD tun. Ihre Wut ist mittlerweile großer Besorgnis gewichen. Es ist so leicht, eine Politik zu verkaufen, die auf Ausgrenzung basiert. Sie sieht es als Bürgerpflicht an, in dieser Sache schnellstens Schadensbegrenzung einzuleiten. Der Jahn muss warten, wohl oder übel. »Überlegen Sie es sich. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Er nickt. Sie geht weiter. Zum Glück ist der Wahlkampf in ein paar Wochen durch. Wie jedes Mal wird sie beten, dass die Rechten keine fünf Prozent bekommen. Jedoch scheint Gott an Wahlen, zumindest in Mecklenburg-Vorpommern, nicht sonderlich interessiert zu sein. Bestimmt hat er andere Sorgen.
15. Juni 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland
»Du fällst überhaupt nicht auf. Wäre beinah vorbeigelaufen.«
Nick nimmt die Sonnenbrille ab und sieht Mattie im Gegenlicht vor seinem Liegestuhl stehen. Sie hat einen Rock an, oder jedenfalls eine Mischung aus Hose und Rock.
»Starr mich nicht so an.«
»Ich hab dich noch nie im Rock gesehen.«
»Ich wollte mich eben mal verändern. Wart’s ab, ich lass mir die Haare wachsen, mach mir ’ne hübsche Hochsteckfrisur, dann kann ich hier auch mitmachen.«
Azim kräht in seinem Joggingmobil. Mattie kneift ihn in die Wange. Er macht ein entsetztes Gesicht. Übergriffige Fremde mag er nicht. Nick sieht sich um. Mattie hat natürlich recht. Männer mit kurzen Haaren, Jeans und Sonnenbrille, Frauen mit langen Haaren, Rock und Sonnenbrille. Durchschnittsalter dreißig. Kinderrate geschätzte sechzig bis siebzig Prozent.
»Die spielen Erwachsensein. Wie langweilig.« Sie sagt es zu Azim, aber sie meint ihn. Mattie lässt sich in den
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