Grenzfall (German Edition)
ihren Bus an. Noch mal umdrehen. Sicher ist sicher. Niemand zu sehen. Nur ein paar winzige Hunde mit umso mehr Fell jagen um die Busse herum.
Mattie kocht Kartoffeln und studiert nebenbei die Website der Kanzlei, für die sie ab morgen arbeitet. Die scheinen ziemlich dick drin zu sein in der Menschenrechtsszene, auch international haben sie Prozesse geführt. Der Kampf gegen gentechnisch verändertes Saatgut ist ein zweiter Schwerpunkt. Sie setzt sich zum Essen aufs Bett und sucht in der Mediathek nach einem Livestream für das EM-Spiel Deutschland gegen Holland. Die Teams laufen gerade ein. Perfektes Timing.
Es klopft. Die Angst ist wieder da, wie ein sprungbereites Tier. Vorsichtig öffnet sie die Tür. Draußen steht der Dicke mit Shorts und Muscle-Shirt. Er grinst sie an. Mattie versucht, die Stufen hinunterzugehen und gleichzeitig die Tür hinter sich zu schließen, so dass er nicht in den Bus sehen kann.
»Ja?«
»Español? Inglese?«
Ihr Spanisch ist rudimentär, ihr Englisch besser. Was er sagt, spielt sich irgendwo dazwischen ab.
»Sie wohnen hier?«
Mattie nickt. »Eine Weile, ja. Ist das in Ordnung?«
»Natürlich!« Er lacht, Goldzähne blitzen auf. »Ist ein freies Land, oder? Deutschland ist gut.«
Sie nickt wieder. Geht so. Kann man so oder so sehen.
»Mein Name ist Liviu. Das ist meine Familie.« Er deutet auf die Busse.
»Mattie. Freut mich.« Sie schütteln sich die Hand. Liviu scheint auf etwas zu warten.
»Mattie – und?«
»Nichts und. Was denn?« Sie weiß nicht, was der Mann will.
»Einfach nur Mattie? Ganz allein? Wo sind dein Mann und deine Kinder? Deine Eltern? Schwiegereltern?«
Nicht schon wieder. Ist heute Weltfamilientag? »Keine Familie. Nur Mattie.«
Er lacht wieder, als hätte sie einen Witz gemacht. Ist ja auch ein Witz, ihr Leben.
»Ich möchte deinen Bus haben.«
Der Bus! Natürlich. An den hat sie nicht gedacht. Die wollen ihren alten Esel klauen. Sie spannt die Muskeln an. Sechs Jahre Kung-Fu ist das eine. Gegen zehn bis fünfzehn Gegner das andere. Womöglich bewaffnet.
»Guck nicht so. Ich gebe dir meinen dafür. Siehst du dahinten? Der T4. Ist zwanzig Jahre jünger, tipptopp in Ordnung.«
Mattie sieht ihn misstrauisch an. »Warum willst du dann meinen haben?«
»Ist zu eng.« Er deutet mit den Händen die Breite an. »Hab schon fünf Kinder, und das sechste ist unterwegs.«
Okay, das ergibt Sinn. Es geht trotzdem nicht. »Ich habe den Bus seit vielen Jahren. Er ist mein Haus. Wie ein Freund.«
Liviu überlegt eine ganze Weile, streicht mit der Hand über seinen Bauch. »Okay, ich verstehe. Die Deutschen lieben alte Häuser und alte Autos. Wie Freunde.«
Mattie fühlt, wie ihre Anspannung etwas nachlässt. Zwischen den Autos kommen ein Mann und ein paar halbwüchsige Jungen hervor. Sofort ist sie wieder auf der Hut. Liviu sieht ihren Blick und dreht sich um.
»Mein Schwager und seine Jungs. Gehen Musik machen.«
Stimmt, sie haben Instrumente dabei. Was ist nur mit dir los, Mattie?
»Alle erwarten von uns, dass wir Musik machen. Also machen wir Musik.« Liviu winkt dem Mann zu. »Meine Frau geht lieber Scheiben putzen. Kottbusser Tor.« Mattie erinnert sich dunkel an Gestalten in langen Röcken, gestern, als sie angekommen ist. »Ich hab auch nichts gegen Musik, gute Partys. Aber meine Hände sind nicht für Musik gemacht. Sie wollen Motoren spüren. In denen kann ich sogar die Zukunft lesen.« Wieder dieses Lachen.
Die Angst räumt ihren Platz und überlässt ihn der Müdigkeit. Mattie gähnt. »Entschuldigung. Ich fange morgen einen neuen Job an.«
»Was für einen Job?«
Mann, ist der neugierig! Aber kann nicht schaden, das schon mal fallen zu lassen. »Bei einem Anwaltsbüro.«
»Ein abogado! Nicht schlecht. Verdient man da viel Geld?«
Jetzt reicht’s aber. Mattie zuckt die Schultern. »Gute Nacht, Liviu.«
»Frau Mattie, schlafen Sie ruhig.« Wieder feierliches Händeschütteln. Dann darf sie endlich den Rückzug antreten.
Als sie Minuten später im Bett liegt und gemütlich das Fußballspiel guckt, sieht sie den Schein des Feuers zwischen den Autos. Komisch, irgendwie fühlt sie sich weniger verlassen als heute Morgen in Nicks schickem Gästezimmer.
14. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Nach dem Zusammentreffen mit Nils ist sie am Strand entlanggewandert bis zu dem Dorf, in dem früher das Atomkraftwerk stand. Die hohen Türme ragen immer noch hinter den Bäumen auf. War es nicht abgeschaltet worden,
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