Grenzfall (German Edition)
geblieben. Vielleicht wäre sie weiter zur Schule gegangen. Vielleicht wäre Mutter wieder gesund geworden. Für jedes Vielleicht soll er zahlen. Ihre Familie wird nicht mehr vom Pech verfolgt sein. Auch wenn sie, Adriana die Stille, nachhelfen muss. Wie viel ist ein Jahr Zukunft ohne Vater wert? Tausend Euro? Viele Tausend?
»Vierzigtausend Euro.« Sie hat nicht lange darüber nachgedacht. Zehntausend für die Mutter. Zehntausend für jedes der drei Kinder.
Verzweiflung auf dem Gesicht des alten Mannes. »So viel Geld habe ich nicht.«
»Du kannst es dir leihen. Eine Bank überfallen. Ist mir egal.«
Sie geht ein paar Schritte rückwärts, prägt sich die ganze Szene ein. Hinter ihm der Balkon, man sieht das Meer. Es hat weiße Schaumkronen. Vier gewinnt.
»Du hast drei Tage Zeit. Und keine Polizei. Wenn du nicht bezahlst, kommen am vierten Tag die Brüder. Die kennen keine Gnade.«
Sie sieht ihm in die Augen, bis er den Kopf abwendet. »Ich arbeite hier jeden Tag. Ich warte auf deine Nachricht.«
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, dreht sie ihr Haar zu einem festen Knoten, hebt ihr Kopftuch auf, bindet es zu.
Dann geht sie. Was bleibt, ist der Hall ihrer Stiefel.
15. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Gesine sieht es schon von weitem. Ungeheuerlich! Neben dem Eingang zum Baltic Center hängt ein Wahlplakat der NPD. Das kann kein Zufall sein, die haben ihre dreckigen Finger überall drin, selbst in der Verteilung der Plakatflächen. Aufgebracht marschiert sie durch den Nieselregen. Unter dem Vordach des Supermarkts steht eine Menschenansammlung. Sie erkennt ein paar der jungen Gesichter. Die 10 a mit dem Kollegen Friedrichs, Mathe und Physik. Sicher haben sie sich untergestellt. Da kann sie doch gleich den Jens bitten, nächsten Mittwoch seinen Fotoapparat mitzubringen.
Erst als sie den Rand der Gruppe erreicht, bemerkt sie, dass jemand zu den Schülern spricht. Ein schlanker Mann im Trenchcoat. Unauffällig, wäre da nicht eine etwas übertriebene Mimik. Ein Vertreter? Er steht auf dem Podest des Elefanten, auf dem die Kleinkinder reiten, wenn ihre Mütter den Einkaufswagen wegbringen.
»Und wir sind doch hier nicht die Einzigen, die so denken. Wir sind nur die Einzigen, die sich trauen, es auszusprechen! Der Herr Sarkozy in Paris hat es uns ja sogar vorgemacht. Ab ins Flugzeug und nach Hause. Leute, die sich der Zivilisation verweigern, brauchen wir hier nicht. Sonst können wir nicht dafür garantieren, dass es kein zweites Mal brennt in Kollwitz. Stimmt das, Herr Lehrer?«
Der Friedrichs starrt den Sprecher an wie ein Ochse. Er nickt.
Gesine ist fassungslos. »Aufhören! Sofort!« Die Schüler drehen sich um. Getuschel kommt auf. Einige sind sichtlich erfreut über die Abwechslung.
»Warum soll ich hier nicht sprechen? Das ist der typische EU-Stalinismus, vor dem ich euch gerade gewarnt habe. Wer nicht auf Linie ist, dem wird Sprechverbot erteilt.«
»Es sind Schüler! Haben Sie denn keinen Anstand?« Während der Mann darüber lamentiert, dass auch die Wähler von morgen und übermorgen ernst genommen werden wollen, drängt sich Gesine zu Friedrichs durch. »Wie lange geht das hier schon so?«
Er starrt sie an, offensichtlich unfähig, die Lage zu kontrollieren.
»Genau vierzehn Minuten«, ertönt es hinter ihr aus der Menge der Schüler. Jemand gähnt. Eine Schülerin filmt mit ihrem Smartphone. »Cool, das ist doch der Typ aus dem Fernsehen. Wie heißt der noch mal?«
Sie versucht zu Friedrichs durchzudringen. »Herr Friedrichs, was machen Sie hier überhaupt?«
Langsam scheint er wieder zu sich zu kommen. »Exkursion zum AKW, Thema Rückbau«, stammelt er, »der Bus sollte längst da sein.«
Gesine seufzt. Zivilcourage ist dem Mann ein Fremdwort. Sie schätzt ihn auf Mitte dreißig. Den hat die Wende schon als Jugendlichen plattgebügelt. Das ist dennoch keine Entschuldigung. In diesem Staat geht keiner nach Bautzen, nur weil er den Mund aufmacht. »Menschenskind! Und Sie lassen es zu, dass der NPD-Chef von Mecklenburg-Vorpommern vor den Kindern spricht? Rechtskräftig verurteilt wegen Volksverhetzung?« Der Mann redet immer noch. Gesine boxt sich durch die Menge nach vorne. »Aufhören! Sofort aufhören! Oder ich zeige Sie auf der Stelle an.«
Er misst sie mit einem arroganten Lächeln. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf, gnädige Frau?«
»Pass uff, Mann, die hat Gott auf ihrer Seite!«, krakeelt es hinter ihr.
»Gott?« Das Lächeln bleibt kleben. »Was hat der denn hier
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