Grenzfall (German Edition)
getötet.«
»Wildschweine?«
»Ja.« Gesine ist in Gedanken wieder in der Zelle bei Adriana. Was hat sie sich nur dabei gedacht, von dem Grab anzufangen? Ihr ist doch nun wirklich kein Vorwurf zu machen. Sie hat immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. »Das Grabkreuz stand jahrelang in der Kirche. Ich hatte dem Mann versprochen, darauf aufzupassen. Gerade habe ich es wieder aus dem Keller geholt, um es für eine Ausstellung über Roma und Sinti in der Region zur Verfügung zu stellen.«
»Warum haben Sie es nicht wieder aufgestellt?« Die Frau sieht sie herausfordernd an.
Der impertinente Tonfall gefällt Gesine ganz und gar nicht. Es lässt sich leicht reden, wenn man nicht selbst am Pranger steht. »Nach dem Tod des Vaters verschwand die Familie. Ich habe den Prozess jahrelang in der Presse verfolgt. Die beiden Jäger wurden am Ende freigesprochen.«
»Die Täter waren bekannt und wurden nicht verurteilt?«
Gesine nickt. »Die irdische Gerechtigkeit ist das eine. Vor Gott müssen sie dennoch ihre Taten verantworten. Ich denke, die waren auch so gestraft genug. Der Jahn jedenfalls war ein vom Schicksal gezeichneter Mann. Einfach so acht Stockwerke hinuntergeworfen zu werden wie ein Stück Abfall, das hat er nicht verdient.«
Bevor die Frau etwas sagen kann, und das hat sie ohne Zweifel vor, kommt der Schließer mit dem Rom zurück. Der Mann ist noch aufgeregter als vor dem Besuch. Er will etwas sagen. Seine Begleiterin unterbricht ihn. »Später, Liviu. Wir sollten uns erst mal verabschieden.« Sie reicht Gesine die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau –«
»Matthiesen. Gesine Matthiesen. Falls Sie sich den Ort des Geschehens mal ansehen möchten – Sie finden mich im Pfarrhaus in Kollwitz-Fichtenberg.«
»Okay.«
Sympathie kann man nicht erzwingen. Nun ja, so ist das eben. Ganz anders der Dicke. Wortreich schüttelt er ihr lange die Hand. Sie lächelt. Diese Emotionalität, dieser bedingungslose Familiensinn der Zigeuner hat sie schon damals beeindruckt. Da könnte sich hier manch einer eine Scheibe von abschneiden.
18. Juni 2012, A 20 Richtung Berlin
Brandenburg, Deutschland
»Sie will nur einen Anwalt, der selber Rom ist?«
Liviu nickt verdrossen und blinkt einen Laster an, damit er überholt. Mattie hat ihn ans Steuer gelassen, er sagt, das Fahren beruhigt ihn. Sie muss zugeben, dass er den Bus behandelt wie ein verdientes altes Rennpferd. Sie stellt die Füße aufs Armaturenbrett, Arme um die Knie, und guckt aus dem Fenster. Auf einer Wiese grasen Rehe im Abendlicht. Was für eine komplizierte, verworrene Geschichte ihr die Gutmenschen-Tante da aufgetischt hat.
»Kanntest du den Vater von Adriana?«
»Jeder kannte Marius Voinescu. Ein angesehener Mann in Turnu Severin. Vorbild für die jungen Männer.« Langsam gewöhnt sie sich an das zwei- bis dreisprachige Kauderwelsch von Liviu.
»Wie habt ihr erfahren, dass er tot ist?«
Liviu rutscht auf dem Sitz hin und her. Das Thema ist ihm unangenehm. »Ich war da. Kurz danach. Sie auch. Adriana.«
»Auf dem Feld? Du warst auch hier in Deutschland?« Das gibt’s doch nicht. »Und dann?«
»Nichts und dann. Marius und ein anderer Mann aus der Gruppe waren erschossen. Von der Polizei. Wir mussten schnell weg, bevor die Polizei wiederkommt. Viele Leute, alle illegal.«
»Moment mal.« Mattie versucht ihre Gedanken zu ordnen. »Ihr habt die beiden Toten da liegen lassen?«
»Bitte, Frau Mattie.« Er lächelt gequält. »Wir reden nicht gern über die Toten. Bringt Unglück. War eine ganz schlimme Sache damals. Wir hatten Angst, sie denken, wir haben Marius und den anderen erschossen.«
Mattie seufzt. Wahrscheinlich hatten sie diese Angst zu Recht. »Okay, aber sag mir wenigstens, woher du weißt, dass es die Polizei war, die Marius umgebracht hat.« Hat die Pastorin vorhin nicht von Jägern gesprochen?
»Wir haben das Polizeiauto gesehen. Kam uns entgegen, sehr schnell. Adriana und ich.«
»Und später? Habt ihr das ausgesagt?«
Er sieht sie an. »Natürlich, Frau Mattie. Hundertmal. Immer wieder musste ich zur Polizei. Reden, reden, reden.«
Ihr ist nicht klar, ob er die Verhöre von damals meint oder ihr augenblickliches Gespräch. Ist aber egal jetzt. Das alte Jagdfieber hat sie gepackt. Bescheuerter Vergleich in diesem Zusammenhang, Mattie. Jedenfalls läuten alle Alarmglocken in ihrem Kopf. »War jemand von euch beim Prozess?«
Liviu zuckt die Schultern. »Ist viel passiert damals. Das Heim wurde geschlossen, nach einem
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