Grenzfall (German Edition)
der Nachbarschaft.
Mein Gott, dieses Gesicht. Erinnerungen stürzen auf sie ein. Damit hat sie nicht gerechnet.
Als Gefängnisseelsorgerin kommt Gesine einmal wöchentlich in die Justizvollzugsanstalt Kollwitz. Hier sitzen kaum schwere Kaliber ein wie in Berlin oder Rostock. Autodiebe, Einbrecher, Kleinkriminelle. Ein paar Drogensüchtige und jugendliche Gewalttäter. Insgesamt gerade mal einhundertvierzig Plätze, Regelvollzug und Untersuchungshaft. Und nun diese Mörderin.
Keine Ablenkung für die Sinne. Sie sitzen in einem Quader aus Beton. Gesine hat im letzten Jahr einen Kurztrip nach Erfurt gemacht und im evangelischen Augustinerkloster übernachtet. Dort gibt es einen Neubau mit einfachen Gästezimmern für Besucher. Protestantische Kargheit. Angenehme Funktionalität. Die Ähnlichkeit der Architektur ist verblüffend.
Unsere Zigeuner. Arno mit seiner Gitarre, auf dem Weg vom Pfarrhaus hinüber ins Heim. Gesine hat sich so bemüht, aber für sie gab es unüberwindbare Grenzen. Die Nähgruppe, um Kostüme für die Tanzvorführungen anzufertigen, die sie in der Umgebung des Heims organisierten. Gemeinsames Kochen mit den Frauen aus der Kirchengemeinde. Doch immer, wenn sie das Gefühl hatte, einen Durchbruch zu erzielen, zogen die Frauen sich wieder in ihre eigene Welt zurück und schlossen sie aus. So wie diese Frau hier, die ihr seit zehn Minuten gegenübersitzt, ohne eine Wort zu sagen.
Arno hatte es leichter mit den Männern. Seine Art ist von Natur aus gewinnend. Er ist Künstler. Er spielt Gitarre. Die Männer im Heim hatten sofort einen Draht zu ihm. Sie vertrauten ihm. Teilten sich mit ihm die Nachtwachen nach dem ersten Angriff, spielten Karten, tranken Schnaps. »Im Herzen bin ich einer von ihnen.« So unrecht hatte er damit nicht. Arno Matthiesen. Bildhauer, Vagabund. Zu Hause dort, wo der Wind ihn hintrieb. So stellte er sich gern dar. Und glaubte es selbst.
Gesine sieht auf die Uhr. »Noch fünf Minuten, dann muss ich wirklich gehen. Es gibt andere, die meinen Beistand brauchen.« Warum hat sie nur das Gefühl, dass die Frau jedes Wort versteht? Sie ist doch rumänische Staatsbürgerin. Sie starrt auf den Zettel vor sich. Adriana Ciurar. Adriana …
»Adriana Voinescu!« Natürlich. Vor ihr sitzt das Mädchen Adriana. Angeklagt wegen Raubmordes an dem Mann, der ihren Vater getötet hat. Menschenskinder. Das muss sie erst mal verdauen.
Adriana schweigt und sieht sie an aus diesen klugen dunklen Augen, deren Blick Gesine schon bei dem Kind beunruhigend fand. So viel Schmerz stand in diesen Augen, als sie sie zurückbrachten von dem Feld, wo ihr Vater gestorben war. Ein stummes Bündel mit zwei riesigen Augen. Einen Tag später stand sie wieder in der Küche, kochte für die kleinen Brüder und kümmerte sich um die Mutter, die ständig in Ohnmacht fiel.
»Sie haben viel Leid erlebt, Adriana.« Gesine wählt ihre Worte mit Bedacht. »Aber Sie können nicht einfach hierherkommen und Rache üben. Damit verursachen Sie anderen Menschen Leid, wie Ihnen welches zugefügt wurde. Haben Sie das bedacht, bevor Sie die Tat begangen haben?«
Kein Wort. Nur die Augen sprechen.
Bei aller Liebe, wenn die Frau nicht reden will, ist ihr nicht zu helfen. Mit einem Seufzer nimmt Gesine ihre Ledertasche und steckt den Zettel hinein. Es ist nicht ihre Aufgabe, der Gefangenen ein Geständnis zu entlocken. »Wenn Sie möchten, komme ich nächste Woche wieder, Adriana.«
Der Blick fokussiert sich auf Gesine. Sie öffnet den Mund. Überlegt. Sie konnte fließend Deutsch, doch das ist zwanzig Jahre her. Man muss ihr Zeit geben.
»Was ist mit dem Grab der Großmutter?«
Gesine fühlt, wie ihr das Blut ins Gesicht schießt. »Adriana, das ist eine lange Geschichte. Zu einem anderen Zeitpunkt bin ich gern bereit …«
Es hat keinen Zweck. Sie hat wieder dichtgemacht. Gesine geht zur Zellentür und klopft dreimal laut dagegen. Einen Augenblick später ist der Schließer zur Stelle. Der lange Gang ist ihr heute viel zu kurz, um den Sturm der Gefühle zu beruhigen, der in ihrem Inneren tost. In der Zeit nach der Wende ist so vieles gleichzeitig geschehen, dass es nie genug Muße gab, zu sortieren und zu verarbeiten. Aufbruch, Verlust, Hoffnung, Enttäuschung. Die Welt schien sich schneller zu drehen. Am Ende jenes Sommers war Arno fort, und ihre Zigeuner auch. Gesine sah sich plötzlich vor die Aufgabe gestellt, die Erziehung ihrer Tochter mit dem Beruf unter einen Hut zu bekommen. Die schwerste Herausforderung ihres
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