Grenzfall (German Edition)
durchschnittlich zwei Zimmer pro Wohnung mal fünf Stockwerke à zwei Wohnungen. Kann das mal jemand ausrechnen?«
»Fünfhundertsechzig die Nacht.« Eine Frau mit harten Gesichtszügen, die Kette raucht. Eine – Romni, na ja, vielleicht. Spielt das eine Rolle, Mattie?
»Das ist eine Goldgrube. Natürlich bestellt der werte Herr nicht mehr Mülltonnen, und die Wohnungen quellen über von Menschen und Sachen. Der Müll fliegt in den Hof. Die Nachbarn beschweren sich. In diesem Fall hat uns eine Frau mit Hirn informiert, die im Bezirksamt arbeitet. Und als wir ankamen?«
Der Mann wirft einen gekonnten Blick in die Gruppe. Stille. Schauspieler, Politiker oder Naturtalent.
»Weg. An die hundert Leute sind wie vom Erdboden verschwunden, und genauso der Herr Celik. Ein Nachbar sagt, da sind nachts Busse vorgefahren und haben die Leute weggebracht.«
»Sollte nicht mal jemand mit den Leuten im Park reden? Ich wette, die kommen auch aus dem Haus.« Das ist wieder die Frau mit den Dreads. »Die brauchen ja einen kurzen Fußweg zum Kotti morgens, zum Scheibenputzen.«
»Kann ich machen.« Ein Wuschelkopf aus der dritten Reihe, Geschlecht von hier aus nicht zu erkennen.
»Vor allem müssen wir diese Geschichten öffentlich machen. Die Leute müssen kapieren, dass es Ursachen gibt, nicht nur Zustände.«
»Ich kenne einen freien Journalisten, der schreibt für verschiedene Zeitungen.« Alle Gesichter drehen sich zu Mattie. Skepsis. Misstrauen. Neugier. »Ich bin Mattie«, fügt sie sicherheitshalber hinzu. »Und das ist Liviu.« Der kommt schon besser an in dieser Runde. Entspannung.
»Okay, ruf den an. Das war’s, Leute. Der Plan für die Sprechstunden nächste Woche hängt aus.«
Fünf Minuten später ist das Plenum in kleine Grüppchen zerfallen. Mattie und Liviu sitzen an einem Tisch, um sie herum fünf, sechs Leute. Diesmal gibt Liviu seine Zusammenfassung der Ereignisse auf Rumänisch, was erheblich schneller geht. Betroffene Gesichter unter denen, die ihn verstehen, geflüsterte Übersetzungen für die anderen. Mattie wartet ab und guckt sich um. Ein schöner Laden. Auch ein Zuhause, so ein Projekt.
Plötzlich fällt das Wort »abogado«, und alle gucken wieder zu ihr.
Die Kettenraucherin ergreift das Wort. »Wir machen hier unbezahlte Sozialarbeit. Begleitung zu den Ämtern und so. Was wir eigentlich machen wollen, ist Kultur, Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen. Eigene Juristen haben wir nicht. Bei welcher Kanzlei bist du?«
»Volker Meerbach und Bettina Wiese.« Ein Raunen geht durch die Gruppe. Ihre Arbeitgeber sind offensichtlich bekannter, als Mattie dachte.
»Bessere gibt es nicht. Die solltest du dafür gewinnen.« Die Frau übersetzt für Liviu, der Mattie auf die Schulter klopft und mit viel Pathos etwas sagt, das sicher so viel bedeutet wie: Ich weiß, dass sie es schaffen wird.
18. Juni 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland
»Meinst du, ich soll besser mal bei ihr vorbeifahren?« Nick sitzt auf der Dachterrasse und beobachtet Massen von Touristen, die sich über die Oberbaumbrücke wälzen. Azim schläft in seiner Hängematte. Jasmin macht irgendwelche Übungen. Start-up family.
»Nikolaus, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du immer quatschst. Mach doch einfach, was du willst.«
»Okay, okay.« Er trinkt einen Schluck mexikanisches Bier. Nicht weil er es mag, sondern weil er versucht, sich innerlich darauf einzustellen. Mindestens ein Jahr, wenn nicht zwei, werden sie nach Mexiko gehen. Nur zu dritt. Kein Cal. Keine Mattie. Keine Kompromisse mehr. Nick guckt auf sein Handy. Immer noch nichts. Er hat heute im Laufe des Tages drei SMS an Mattie geschickt. Sie hat nicht geantwortet. Eigentlich wollte er schon nachmittags zum Parkplatz fahren, dann hat Azim sich wieder eingeschissen, eine Kollegin von Jasmin kam vorbei, um letzte Tipps zu geben, und jetzt –
Das Telefon brummt.
»Ja? Mattie! Wo warst du denn? Hast du meine SMS nicht gekriegt?« Er verzieht sich schnell nach drinnen, um Jasmins bösen Blicken zu entgehen. »Wo warst du?«
In Kollwitz, na toll. Kaum eine Woche hier, schon verschwindet sie wieder an die Ostsee. Ohne Empfang.
»Klar kannst du kommen. Weißt du doch.« Er legt auf. Ist es klar? Müsste er eigentlich Jasmin fragen, bevor er ja sagt? Sie hat ihre Prioritäten klar gesetzt, wie es so schön heißt. Ihr Beruf, Nick und Azim. Alles andere rangiert irgendwo dahinter, auch ihre Freunde und ihr Vater Kamal.
»Mattie kommt gleich noch vorbei.«
»Schön,
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