Grenzfall (German Edition)
Feuer. Überall Feuer in Deutschland. Gegen Ausländer. Aber waren nur wenige, sonst ist Deutschland ein gutes Land.«
»Hmm, ja.« Meint er das wirklich ernst, nach allem, was passiert ist, oder sagt er es nur ihr zuliebe? »Wohin seid ihr gegangen?«
Wieder ein Thema, das Liviu offensichtlich nervt. »Adriana ist zurück, gleich nach dem Feuer im Heim. Mit der Familie. Marius wurde zu Hause beerdigt. In Turnu Severin. Ich musste weg aus Kollwitz. Zurück nach Rumänien. ’93.«
Langsam dämmert es in Matties Bewusstsein. 1992. Der letzte Sommer mit Tim. Rostock-Lichtenhagen. Änderung des Asylrechts. Sichere Drittstaaten. »Haben sie dich abgeschoben, Liviu?«
Er nickt. »Alle. Wenn sie uns gefunden haben, mussten wir ins Flugzeug und nach Rumänien. Nach ein paar Jahren waren alle wieder da. In Turnu Severin. Da konnten wir nicht mehr weg. Bis EU. Erst nur mit Visum. Jetzt ohne.«
Mattie überlegt. Wie praktisch. Alle Zeugen untergetaucht oder abgeschoben. »Wusstest du, dass die Männer, die Marius erschossen haben, freigesprochen wurden?«
»Was?« Liviu sieht misstrauisch zu ihr rüber. »Kein Gefängnis? Aber wussten doch alle, wer es war!«
»Ja, genau.« Mattie ist schwindelig von der Informationsflut der letzten Stunden. »Glaubst du, die Familie hat davon gewusst? Adriana?«
Liviu schüttelt den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall. Sie hätten es jemandem erzählt. Wir leben sehr eng zusammen. Eine Familie, verstehst du?«
Klar, das hat sie mittlerweile kapiert. Ist ja nicht zu übersehen. »Und habt ihr in eurer Berliner Abteilung zufällig auch einen Anwalt?«
»Abteilung?« Livius Sinn für Humor ist vielleicht wegen Stress abgeschaltet.
»Wo finden wir einen Roma-Anwalt?«
»Aber, Frau Mattie!« Jetzt schwingt eindeutig ein Vorwurf in seiner Stimme. »Sie arbeiten doch bei dem abogado. Müssen Sie sagen!«
Na toll. Vielleicht kennen Volker und Bettina einen Anwalt, der zufällig Rom ist. Irgendwo in Deutschland. Vielleicht auch nicht. Mattie greift in ihre Tasche, um das Handy herauszuholen. Hoffentlich hat Nick sich von selbst gemeldet. Dann könnte sie ihn bitten, Jasmin zu fragen –
Nichts. Nicht mal eine SMS. Warum soll er sich auch darum kümmern, was der Ex-Anteil seiner Familie so ganz allein am Wochenende treibt? Familie im Roma-Sinne jedenfalls könnte man es doch nennen, oder? Denk nach, Mattie. Du bist auf dich allein gestellt.
Sie steckt das Telefon wieder in die Tasche. Dabei gerät ihr ein Papier zwischen die Finger. Der Flyer. Neulich im Park hat sie ihn eingesteckt, ohne draufzugucken. Was hat die Frau noch gesagt? »Wenn es Probleme mit der Polizei gibt, meldet euch.« Probleme mit der Polizei. Das kann man in diesem Fall laut sagen.
Eine Stunde später parken sie vor einem kleinen Ladenlokal in Neukölln. Mattie steigt aus. Heiße, stickige Stadtluft schlägt ihr entgegen. Es hat trotz allem gut getan, mal rauszukommen. Liviu gibt ihr den Schlüssel zum Bus. Die Tür des Ladens steht offen. Höflich lässt er ihr den Vortritt.
Drinnen ist die Luft zum Schneiden. Ungefähr zwanzig Leute sitzen um Tische herum und auf der Kante einer Bühne. Viele rauchen, überquellende Aschenbecher, man trinkt Kaffee und Clubmate. Gemütlich. Sieht nach Plenum aus. Mattie hat ja mal ein besetztes Kino mitbetrieben, vor Urzeiten in Hamburg. Dort ist sie Nick begegnet. Sie und Liviu stellen sich neben die Tür. Keiner beachtet sie.
»… immer dasselbe. Diesmal war es ein Hausverwalter in Friedrichshain. Der Besitzer hat Insolvenz angemeldet, das Haus ist zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben. Das Vorderhaus steht seit einem halben Jahr leer, weil es angeblich modernisiert werden sollte.« Der Mann ist vielleicht ein paar Jahre älter als sie, dunkler Zopf, weißes Hemd. Eckige Brille mit schwarzem Rand. Raucht Gitanes. »Und dieser schlaue Herr Celik –«
»Ist das ein Türke?« Die Frau mit den Dreads, die ihr den Flyer gegeben hat.
»Spielt das eine Rolle?« Der Mann fixiert sie über den Rand seiner Brille. Nicht schlecht. Mattie hockt sich auf eine umgedrehte Bierkiste. Liviu sieht sie an. Sie macht eine Handbewegung, er soll sich hinsetzen. Kann dauern.
»Also dieser Hausverwalter denkt sich: Warum soll ich das ganze Haus leerstehen lassen, und streut über irgendwelche Kanäle, dass er Betten vermietet. Keine Zimmer, Betten! Ihr wisst, wie es läuft in Ungarn und Tschechien. In weniger als zwei Wochen waren die Betten voll. Sieben Euro die Nacht mal vier pro Zimmer mal
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