Grenzfall (German Edition)
Lebens.
In der Eingangshalle, ebenfalls bestechend in ihrer Kargheit, trägt die Akustik ihr schon von weitem einen hitzigen Disput entgegen.
»Aber wir sind extra aus Berlin gekommen! Er hier ist ihr Cousin. Und ich arbeite für die Kanzlei Meerbach & Wiese.«
»Dann sollten Sie wissen, dass ein Antrag gestellt werden muss beim zuständigen Haftrichter. Sie können nicht einfach so hier reinschneien. Die Frau ist in Sicherheitsverwahrung. – Frau Pastorin.« Der Pförtner hebt die Hand zum Gruß.
»Machen Sie nur so viel Stress, weil sie eine Roma ist?« Die Frau klebt ja fast an der Scheibe. Nun haut sie sogar mit der flachen Hand dagegen.
»Geht es bitte etwas weniger aggressiv?« Gesine mustert die Besucher. Die Frau vielleicht Mitte dreißig, alternativer Look, kurze Haare, der Mann jünger, ein kleiner Dicker mit Shorts und Stoppelschnitt, beide sehen ausländisch aus. Davon abgesehen bilden sie ein ungleiches Paar. »Außerdem heißt es Romni.«
»Wie bitte?«
»Weibliche Angehörige der Roma werden Romni genannt. Das ist der korrekte Sprachgebrauch. Wussten Sie das nicht?«
»Nein.« Die Frau sieht sie interessiert an. »Mattie Junghans. Das ist Liviu, äh –«
»Iancu«, ergänzt der Dicke.
»Liviu Iancu. Er ist ein Cousin der Frau, die hier gestern wegen Mordes eingewiesen, ich meine, in Haft genommen wurde. Untersuchungshaft.«
»Und Sie sind Anwältin?« Das ist doch Humbug. Gesine will und kann ihr Misstrauen nicht verhehlen.
»Natürlich nicht.« Die Überraschung ist echt. »Ich mache seit kurzem die Öffentlichkeitsarbeit für unsere Kanzlei.«
»Dann sollten Sie sich aber schnellstens einen anderen Tonfall angewöhnen.« Sie ist immer noch ungehalten. »Sonst werden Sie nicht viel erreichen.« Hinz, der Pförtner, wirft ihr einen dankbaren Blick zu.
Die Frau sieht sie an, überlegt. Entweder nimmt sie ihr die Bemerkung nicht übel oder sie lässt es sich nicht anmerken. »Haben Sie als Pastorin Zugang zu den Untersuchungsgefangenen?«
»Ich war gerade bei Adriana. Adriana Ciurar. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut.«
Der Dicke horcht auf. Die Frau, Mattie, flüstert ihm etwas ins Ohr. Er zieht ein Taschentuch aus der Hose und wischt sich über die Stirn. Die Aufregung steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Bitte. Adriana, meine Leute. Meine Familie.« Er klopft sich auf die Brust.
Gesine denkt an die Augen von Adriana Voinescu. Eine vertraute Person kann ihr vielleicht eher Trost spenden. »Können Sie nicht für fünf Minuten eine Ausnahme machen?« Sie sieht auf die Uhr. »Ich warte solange hier.«
Hinz gibt ihr ein Zeichen, schließt die Klappe und führt ein kurzes Telefonat. Er legt auf und nickt. Kurz darauf erscheint der Schließer wieder.
»Fünf Minuten«, sagt Hinz.
Der Schließer verschwindet mit Liviu.
Seine Begleiterin entspannt sich etwas. »Danke. Möchten Sie einen Kaffee?«
Der Anstaltskaffee ist ungenießbar, Gesine will das Friedensangebot jedoch nicht ausschlagen. »Gern.«
Kurz darauf kommt die Frau mit zwei Bechern zurück.
»Was für eine tragische Geschichte.« Gesine nimmt einen Schluck heißen Kaffee. »Wissen Sie, ich kenne diese Familie. Ich habe die Großmutter hier auf meinem Friedhof beerdigt. Sie starb an einem Asthmaanfall. Mein Mann, er ist Bildhauer, hat das Grabkreuz gearbeitet. Dann haben wir das Grab mit Ziegelsteinen eingefasst. Es wurde mehrfach geschändet, ich wurde persönlich bedroht, die Kirchenfenster eingeworfen. Aber für unsere Zig –, für die Roma war es furchtbar. Eine dunkle Zeit.«
»Die Familie lebt hier?« Die Frau ist verständlicherweise irritiert.
Warum hat sie nur davon angefangen? Ein unerklärliches Bedürfnis hat sie gepackt. Manchmal braucht eben auch der beste Seelsorger ein geneigtes Ohr. In anderen Gemeinden gibt es schon länger Supervision für die Pastoren. Nicht so hier im Norden. Da hält man nichts von solchem neumod’schen Gedöns. »Sie haben hier gelebt, vor zwanzig Jahren, als in der Gegend sehr viele Flüchtlinge über die Grenze kamen. Adriana war damals noch ein junges Mädchen, ein Kind. Sie übersetzte zwischen ihrem Vater und mir. Ein guter Mann, immer besonnen. Er wollte Papiere besorgen, um die Leiche seiner Mutter nach Rumänien zurückzubringen. Auf dem Rückweg wurde er auf einem Feld bei Peltzow erschossen. Es war ein Jagdunfall, zwei Jäger hatten die Flüchtlinge für Wildschweine gehalten. Einen von ihnen hat Adriana nun offensichtlich
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