Grenzfall (German Edition)
einen Stein fährt. War ja sehr trocken, der Sommer.«
Nick hat eine Idee. »Arbeitet der noch bei Ihnen, dieser Fahrer?«
»Helmut? Na klar. Der kommt hier gleich mit der Maschine. Die ist geliehen. Das Feld muss heute runter.« Er drückt auf das Gaspedal, um anzudeuten, dass seine Zeit auch Geld ist. Nick tritt vorsichtshalber einen Schritt zurück. Doch der Mann ist noch nicht fertig. »Soll ich Ihnen mal was sagen? Die Grenzer, die waren uns – also den Jägern im Allgemeinen – die waren uns richtiggehend dankbar. Was glauben Sie denn? Danach war nämlich Ruhe hier. Da kam keiner mehr rüber.«
»Ist ja toll.« Nicks Stimme trieft vor Sarkasmus. Der Mann ist offensichtlich mit dieser Art Humor nicht vertraut.
»Also, dann gucken Sie ruhig weiter. Aber halten Sie mir die Leute nicht auf. Waidmanns Heil wünsche ich.« Der Jeep braust davon.
Nick sieht ihm nach, bis er um die Kurve verschwunden ist. Dann zieht er das Aufnahmegerät aus der Tasche. Es läuft noch.
Er hat auf Volkers Account einen Car-Sharing-Wagen genommen, der auf dem Feldweg hinter der Allee parkt. Nick holt eine Thermoskanne aus dem Handschuhfach und füllt heißen Kaffee in den Becher. Neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt der Zwergspitz. Guckt der beleidigt? Nick hat ihn vorhin ins Auto gesperrt, weil er einem Hasen hinterher wollte und gekläfft hat wie ein Irrer.
»Jetzt sei du nicht auch noch sauer auf mich.« Der Hund sieht ihn an und stößt einen tiefen Seufzer aus. Nick trinkt Kaffee und blickt über die Felder. Dramatische Wolkenformationen ziehen über den Himmel. Das Licht wechselt, und mit ihm die Farbe des Feldes. Durch das offene Fenster klingt die Sinfonie der Windräder.
Er hat Jasmin immer noch nicht gesagt, dass er an dem Fall arbeitet. Zum einen, weil sie geplant hatten, die letzten zwei Wochen vor der Abreise gemeinsam zu verbringen. In Berlin oder woanders, Jasmin muss nicht mehr ins AA.
Doch es ist nicht nur das. Nick hat Angst. Der letzte Artikel liegt unvollendet auf der Festplatte. Was, wenn er es wieder nicht schafft? Irgendwann wird sie den Respekt vor ihm verlieren. Im besten Fall wird sie ihn dann mit sich durch die Welt schleppen wie er diesen Hund. Ein Mann ohne Namen. Azim wird größer werden und sich fragen, wer eigentlich dieser nutzlose Typ ist, der immer bei ihnen rumhängt. Finstere Aussichten.
Wie um diese Gedanken zu vertreiben, fährt in dem Moment von links ein gelber Mähdrescher in den Panoramaausschnitt seiner Frontscheibe ein, gefolgt von zwei Treckern mit Anhänger. Es geht los.
Nick stellt sich an den Straßenrand und verfolgt gebannt die Choreografie der Ernte. Reihe für Reihe wird das Getreide gekappt und aus einem Rohr des Mähdreschers direkt auf die Anhänger geblasen. Ist eine der beiden Pritschen voll, zieht der Trecker an, macht Platz für den anderen und fährt über die Allee zum Silo. Fünf Minuten später ist er wieder da, bereit zu übernehmen. Zeit ist Geld.
Er wartet über eine Stunde, bis sich irgendetwas in den Klingen des Mähdreschers verfängt und das Ballett zum Stillstand bringt. Ein stämmiger Mann mit Halbglatze in einer schwarzen Latzhose steigt aus der Steuerkapsel des Monstrums wie aus einer mobilen Kampfmaschine auf die Erde.
Nick nähert sich vorsichtig von der Seite. »Entschuldigung, sind Sie Helmut?«
Der Mann guckt kurz hoch, nickt und wendet sich wieder seinem Gerät zu. Erst als er einen Stock herausgezogen hat, dreht er sich um und mustert Nick ausgiebig. »Sie stehen ja hier schon ’ne ganze Weile rum.«
»Ich interessiere mich für den Fall damals, die beiden toten Flüchtlinge. Erinnern Sie sich daran?«
Der Mann winkt ab. »Dreimal musste ich deswegen vor Gericht. Am Anfang habe ich noch geredet, aber die haben mir ja sowieso nicht geglaubt. Da hab ich lieber meine Klappe gehalten.« Er wird unruhig, guckt demonstrativ zu seiner Tür hoch. »Ich muss dann mal.«
Nick folgt seinem Blick. »Und wenn ich –«
Helmut grinst. »Sie wollen mitfahren? Ist aber ganz schön laut.«
»Macht nichts.« Nick deutet auf das noch stehende Getreide. »Sieht doch bestimmt klasse aus von da oben.«
Der Fahrer nickt, überrascht von so viel Interesse. »Na denn kommen Sie mal mit. Der Chef ist ja momentan auf dem Hof.«
Vor Nicks Augen läuft ein Experimentalfilm. Sein Blickfeld ist mit Halmen ausgefüllt, die auf ihn zurasen, nur um dann in einen unsichtbaren Schlund gesogen zu werden. Kaum sind sie weg, ist die nächste Reihe dran. In seiner
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