Grenzfall (German Edition)
Vorstellung unterlegt Nick den Film mit der Windrad-Komposition. Ein Meisterwerk abstrakter Filmkunst.
»Was hat man Ihnen denn damals nicht geglaubt vor Gericht?« Er muss gegen den Lärm anbrüllen. Helmut nickt zum Zeichen, dass er ihn verstanden hat.
»Na ja«, brüllt er zurück, »die haben mir gesagt, das wäre eine Täuschung. Aber ich bin ja runter vom Bock und rüber zu den beiden. Da hat es noch nicht gebrannt. Der eine war hin, da fehlte der halbe Kopf, hab ich gleich gesehen. Aber der andere, der hat so geröchelt. Ich dachte, der lebt noch.«
»Wer hat gesagt, das wäre eine Täuschung?« Nick ist jetzt ganz bei der Sache.
»Einer dieser Gutachter, so ein Professor. Den hat die Verteidigung angefordert. Meinte, das wären nur noch Gase gewesen, die aus dem Toten kamen.«
Der Mähdrescher fährt die letzte Reihe Getreide ab, die auf diesem Teil des Feldes steht. Dadurch entsteht zwischen der Straße und den hinteren Feldabschnitten eine Art Innenraum, ungefähr von der Größe eines Fußballfeldes. Meter für Meter öffnet sich der Blick darauf vor Nicks Augen.
Noch zehn Meter. Aus der letzten Insel stehenden Getreides stürzen zwei Rehe hervor. Sie können nur auf die offene Fläche entkommen. An der Allee stehen mehrere Allradwagen. Männer legen ihre Flinten an.
Schüsse.
Nick zuckt zusammen.
Helmut grinst. Dann stellt er den Motor ab.
In der folgenden Stille schweigen selbst die Windräder.
23. Juni 2012, Braşov
Transsilvanien, Rumänien
»… also das Workcamp in Costa Rica, und danach muss ich direkt nach Barcelona, um mir eine Wohnung zu suchen. Nadi, ich bin so aufgeregt! Ich glaub, ich muss erst mal shoppen gehen.«
Raluca sitzt im Garten ihrer Großeltern auf der Hollywoodschaukel. Vor und zurück. Nadina ist ganz schwindelig vom Skypen mit ihr. Sie hat schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt.
Noch mal fünf Minuten, bis es Raluca auffällt. »Und du, Nadi? Hast du endlich einen Job?«
Nadina schnaubt. »Ist ja nett, dass du auch mal fragst.«
Raluca stoppt. »Hey, sorry. Alles okay bei dir?«
Klar. Alles bestens. Wir sind kurz vorm Verhungern. Nadina fühlt sich, als würde sie mit einer Außerirdischen reden. »Die Callcenter sind voll. In den Ferien arbeiten da die Lehrer.«
Raluca lacht. »Na, die müssen’s ja nötig haben.«
»Ich hab sogar die Hotels abgeklappert. Aber die wollen lieber keine Zimmermädchen, die Englisch und Französisch sprechen.«
»Warum bewirbst du dich nicht einfach heimlich für einen Studienplatz? Wenn du erst eine Zusage hast, werden deine Leute dich schon gehen lassen.«
Nadina seufzt. »Raluca, du verstehst das nicht.« In der Schule hatten sie beide das gleiche Leben, die gleichen Probleme. Klamotten, Typen, so was halt. Wie soll sie Raluca erklären, was bei ihnen zu Hause abgeht? »Ich melde mich, wenn ich wieder online bin, okay? Muss jetzt los.«
»Okay, Nadi.« Raluca pustet ihr einen Kuss in die Kamera. »Und vergiss nicht, heute Abend läuft Top-Models, Halbfinale!«
Nadina schließt schnell das Skype-Fenster. Raluca ist ein Girlie. Der kann sie schlecht erzählen, dass sie seit Tagen keinen Strom haben. Kein Fernsehen. Kein Licht. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die Kopfschmerzen sind ein Dauerzustand. Sie kommt schon lange nicht mehr ins Internetcafé, um Arbeit zu suchen. So groß ist Bra ş ov nicht, nach einer Woche waren alle Jobs abgeklappert. Manchmal tut sie bloß, als würde sie surfen, und hört den anderen beim Skypen oder Spielen zu.
Sie steht auf, Blick auf die Uhr. Drei Stunden rum. Sie gibt dem Jungen an der Kasse ihre letzten Lei. Ab jetzt kann sie sich nicht mal mehr hier ausklinken. Der Junge lächelt sie an. »Bis morgen?«
»Fick dich ins Knie.« Mit Wut im Bauch tritt sie auf die Straße. Heiß heute. Ein paar Touris mit Rucksäcken laufen an der Kirche vorbei, an ihrer Spitze eine junge Frau mit muskulösen braunen Beinen.
»Wir haben so viele Sport- und Medizinstudenten, die hier im Sommer als Bergführer arbeiten. Leider alles voll!«, hat ihr der Mann in der Reiseagentur erklärt.
Nadina geht mit schnellen Schritten über den Platz und durch die engen Gassen bis zum Fußballstadion. Sie folgt der Ausfallstraße, biegt aber nicht ins Viertel ab, sondern läuft hintenrum durch die Felder, bis sie unter den Masten des Umspannwerks herauskommt. Von hier hat sie die Straße vor dem Haus im Blick. Das große Schwein der Nachbarn wühlt grunzend im Müll. Über ihr sirren die Leitungen.
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