Grenzfall (German Edition)
geglaubte Information in Matties Hinterkopf leuchtet schwach auf, rumänische Aussiedler, Siebenbürgen. So einer hat ihr gerade noch gefehlt.
»Ich suche Familie L ă c ă tu ş . Sie haben hier 1992 gewohnt.«
»Meine Frau und ich sind erst ’95 hier eingezogen. Die Kinder sind nach Deutschland gegangen, wissen Sie.« Schindler überlegt. »Nein, L ă c ă tu ş , der Name sagt mir nichts.«
»Na dann, vielen Dank und auf Wiedersehen.« Mattie wendet sich zum Gehen.
»Nicht so eilig, junge Frau.« Sie dreht sich um. »Haben Sie denn keine Zeit? So kommen Sie schon.« Er steuert auf die Treppe zu.
Mattie zögert. Ach, was soll’s. Dieses komische Männchen wird ihr schon nichts tun.
Im dritten Stock bleibt er stehen. »Hier drüben wohne ich. Und hier –« Er drückt eine Klingel. Schritte. Eine Frau öffnet. Dauerwelle, rote Haare, Sommerkleid mit Blumenmuster. »Paula!« Herr Schindler deutet auf Mattie und setzt zu einem Wortschwall auf Rumänisch an, den Paula dadurch unterbricht, dass sie ihn und Mattie mit einem matten Lächeln in die Wohnung bugsiert.
Im Wohnzimmer sitzt ein Mann um die fünfzig mit einer bandagierten Hand. Ein Arbeiter wie aus dem Bilderbuch, inklusive weißes Unterhemd und Fluppe im Mundwinkel.
»Bogdan Sotica.« Schindler deutet stolz auf seinen Nachbarn und setzt sich in einen goldgelben Polstersessel. Die beiden Männer könnten nicht unterschiedlicher sein.
Mattie sagt »Bun ă ziua, Bogdan« und wird von Paula ebenfalls mit sanfter Gewalt in einen Sessel gedrückt. Bogdan raucht, Schindler redet.
»Wie war der Name der Familie doch gleich?«
»L ă c ă tu ş .«
Stille.
Paula Sotica erstarrt mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen in der Hand. Bogdan beugt sich vor und fixiert Mattie. Selbst Schindler wirkt einen Moment lang eingeschüchtert.
Bogdan spricht. Kurz, mit heiserer Stimme.
»Er fragt, warum Sie das wissen wollen.«
Mattie überlegt, wie viel sie erzählen soll. »Niculai L ă c ă tu ş wurde 1992 in Deutschland erschossen. Wir suchen die Familie, eventuell wird der Fall noch einmal vor Gericht kommen.«
»In Deutschland erschossen? Von wem denn?« Schindler scheint die Geschichte nicht zu gefallen.
»Übersetzen Sie doch.« Mattie versucht die Ruhe zu bewahren. »Bitte!«
Er zögert, dann folgt er ihrer Bitte, während Paula Kaffee einschenkt. Auf allen freien Flächen steht Nippes aus Porzellan. Mattie schaudert. Wie können sich Leute bloß mit so vielen Dingen umgeben?
Paula sitzt jetzt neben ihrem Mann. Sie schauen sich an, dann beginnt er zu reden.
»Bogdan und Niculai L ă c ă tu ş waren Arbeitskollegen und Nachbarn. Bei der zweiten Entlassungswelle nach der Revolution verlor Nicu die Arbeit und ging mit seinem Bruder nach Deutschland. Sie hörten erst wieder von ihm, als Silvia, das ist Nicus Ehefrau, einen Brief bekam, sie möchte bitte seinen Sarg am Flughafen Otopeni abholen.«
Paula schlägt die Hände vors Gesicht. Sie spricht schneller als ihr Mann und betont das Gesagte mit den Händen. Vor Aufregung hat sie rote Flecken auf den Wangen.
»Silvia öffnete den Sarg, obwohl es verboten war. Es war ein einfacher Holzsarg aus hellem Holz. Paula war dabei. Als Silvia die verbrannte Leiche sah, brach sie zusammen.«
Schindler stellt eine Frage, in der das Wort Ţigani vorkommt. Mattie horcht auf. Paula und Bogdan antworten, ergänzen einander, ein eingespieltes Team.
»Es gab eine Trauerfeier, zu der viele Zigeuner aus der Gegend kamen.« Schindlers Augen leuchten auf. »Sie verstehen es, zu feiern, selbst die Beerdigungen sind wahre Feste. Ihre Musiker sind einmalige Künstler.« Mattie schaut ihn bittend an, und er kommt wieder zur Sache. »Zwei Wochen nach der Beisetzung musste Silvia mit den fünf Kindern die Wohnung räumen.«
Bogdan schüttelt den Kopf. Seine Mimik verrät echtes Mitgefühl.
»Sie sind dann zurück ins Zigeunerviertel –« Paula unterbricht die Männer. »Sie sagt, wir sollen es nicht Zigeunerviertel nennen, sondern Industriegebiet. Doch es ist nun mal das Zigeunerviertel.« Schindler erwartet Matties Zustimmung.
Sie würde gern mit Paula und Bogdan direkt sprechen, die beiden sind ihr sympathisch. Stattdessen trinkt sie ihren Kaffee, macht »hmmm« und nimmt einen Keks aus der Porzellanschale mit rosa Blüten.
Schindler ist sich seiner zentralen Position in dieser Runde bewusst. Er hat Oberwasser. »Wissen Sie, hier in Siebenbürgen leben wir ja schon seit Jahrhunderten mit den Zigeunern. Sie sind wie Kinder!
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