Grenzfall (German Edition)
So viel beschissener Strom kommt hier an, und bei ihnen reicht es nicht mal, um abends Licht zu machen. Wenn es dunkel wird, müssen sie und Mama mit Aufräumen fertig sein. Dann setzen sie sich auf die Bank im Hof, sehen zu den Sternen hoch und rauchen. Oder sie gehen ins Bett. Neuerdings liegt Nadina stundenlang wach. Mama schläft auch nicht, das weiß sie. Die sucht händeringend nach einer Möglichkeit, zweitausendvierhundert Euro aufzutreiben.
Noch eine Woche.
Sie beobachtet, wie Mihai mit seinem Sohn durch die Pforte kommt. Das bedeutet, er hat wieder keine Arbeit, sonst würde seine Frau den Kleinen abholen. Cristi stellt sich breitbeinig auf die Straße. Er imitiert sein Vorbild Ronaldo. Sein Vater geht vor ihm her, die Schultern gebeugt wie ein alter Mann.
Plötzlich kommt Bewegung ins Viertel. Ein fremdes Auto hat sich in die Sackgasse verirrt. Wie aus dem Nichts tauchen Leute auf, um einen Blick reinzuwerfen. Mihai zieht Cristi, der schon mit halbem Oberkörper auf der Motorhaube liegt, an die Seite. Zack! Sie hört die Ohrfeige bis hier. Cristi rennt heulend weg.
Mihai ist schon in seiner Hütte verschwunden, als der Wagen anhält. Hat der Fahrer endlich seinen Irrtum bemerkt? Nein, er streckt den Kopf raus und fragt die Nachbarin was, die ihren Busen über den Zaun hängt. Was für eine Schlampe. Sie zeigt auf den Eingang zu Mamas Haus. Schnell klettert Nadina die Böschung runter. Als sie bei dem Auto ankommt, ist Mama schon da. Kann die hellsehen?
Der Mann steigt aus. Nadina kann nicht glauben, was sie sieht. Mama umarmt den Gadje wie einen alten Freund. »Bogdan! Wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«
Er hält seine Hand hoch, die mit einem Verband umwickelt ist. »Hab nicht aufgepasst an der Maschine. Ich werde alt, Silvia.«
»Komm doch rein, mein Freund. Wie geht es Paula?«
»Sie lässt dich grüßen. Aber ich muss weiter zum Arzt. Ich habe nur Besuch vorbeigebracht, der dich kennenlernen möchte.« Er deutet auf das Auto. »Spricht jemand in deiner Nachbarschaft Englisch oder Deutsch?«
Bevor Mama antworten kann, tritt Nadina neben sie. »Ich spreche Englisch!«, sagt sie.
Der Mann mit Namen Bogdan starrt sie an. Dann sieht er zu Mama. »Das ist doch nicht die Kleine?«
Mama lacht. »Doch, Bogdan, das ist Nadina. Ist sie nicht eine schöne junge Frau?«
»Und ob sie das ist.« Bogdan guckt wieder zu ihr. »Mein Gott, wie die Zeit vergeht.«
Auf einmal öffnet sich die Beifahrertür, und eine Frau mit kurzen Haaren steigt aus. Die Haare sind schon ein bisschen grau, sie dürfte in Mamas Alter sein, vielleicht ein bisschen jünger. Auf jeden Fall ist ihr Rücken nicht so krumm vom Arbeiten.
»Sind Sie die Ehefrau von Niculai L ă c ă tu ş ?«, fragt sie auf Englisch.
Nadina übersetzt und Mama nickt feierlich. »Das bin ich. Und dies ist meine Tochter Nadina.«
Die Frau sieht sie an und lächelt. »Mein Name ist Mattie Junghans. Ich komme aus Deutschland.«
Während Nadina übersetzt, merkt sie, wie Mama an ihrem Arm zu zittern beginnt. Sie ist ganz blass. »Mama!«
Die fremde Frau hebt die Hand. Bogdan, der gerade wieder einsteigen will, bleibt stehen.
»Guckt doch nicht alle so besorgt!« Mama lacht. »Es ist nur die Freude. Zwanzig Jahre habe ich darauf gewartet, dass sie kommt. Das war knapp. Sag ihr, sie soll reinkommen.«
Noch während sie übersetzt, nimmt Mama die Frau, Mattie, am Arm und führt sie ins Haus, weg von den gaffenden Nachbarn. Bogdan hupt und fährt los. Im letzten Moment erwischt Nadina Cristi, der sich schon wieder herangeschlichen hat. »Du rennst jetzt nirgendwohin petzen, Kleiner!«, zischt sie ihm ins Ohr und zerrt ihn hinter sich her. »Das geht nur Mama was an und sonst niemanden!« Er wehrt sich, aber Nadina lässt nicht locker. Als sie in den Hof kommen, öffnet sie kurzerhand die Tür zum Klo, schiebt den Jungen rein und stellt die Bank davor.
Dann folgt sie Mama und dieser Mattie ins Haus.
23. Juni 2012, Braşov
Völlig anders als Turnu Severin. Keine Paläste. Kein Bollywood. Dieses Viertel erinnert Mattie eher an das andere Bombay, wo man die Blocks der Mittelklasse verlässt und unvermittelt in den dörflichen Strukturen einer Hüttensiedlung landet. Das Reich von Prinzessin Mattie liegt auf einem anderen Planeten.
Die kleine Frau mit den Smaragdaugen hat mehr Kraft, als man denkt. Energisch zieht sie Mattie durch einen dunklen Gang aus festgetretener Erde in einen Hof, an den auf der rechten Seite ein fragiles Etwas aus Holz
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