Grenzgaenger
morgens Unterricht gehabt?»
«Nein, donnerstags hat er frei in diesem Halbjahr.»
«Er war also vormittags zu Hause?»
«Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, ja. Als ich um halb elf vom Einkaufen kam, war sein Wagen da.»
«Hatte Ihr Mann morgens Besuch?»
«Ich habe niemanden gesehen, aber es kann schon sein. Ich achte nicht darauf.» Sie zögerte. «Herr Toppe? Woran ist mein Mann gestorben?»
«An einer Digitalisvergiftung. Wir sind ziemlich sicher, dass er ermordet worden ist.»
«Von wem?»
«Ja, das ist unser Problem. Wir wissen es nicht.»
Sie sah durch Toppe hindurch und schüttelte langsam den Kopf.
«Wer sollte Otto umbringen wollen …?»
«Wir haben gehofft, Sie könnten uns weiterhelfen.»
«Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Gerade Otto. Der hat doch für jeden sein letztes Hemd gegeben. Das war’s doch gerade.»
«War was gerade?»
«Ach, das gehört wohl nicht hierher, aber das war’s, woran unsere Ehe letztendlich zerbrochen ist.»
«Würden Sie mir Ihren Mann beschreiben?»
Sie sah lange auf ihre Hände, die sie um das Taschentuch gefaltet hatte.
«Wissen Sie», fing sie leise an, «ich habe ihn einmal einen ‹Gefühlskommunisten› genannt: immer auf der Seite der Getretenen. Für alle da, rund um die Uhr. Er konnte nie ‹nein› sagen. Er merkte es nicht einmal, wenn die Leute ihn schamlos ausnutzten. Und wenn ich ihn darauf hinwies, zuckte er nur die Schultern. Wir hatten so gut wie kein Familienleben. Am Anfang ist mir das gar nicht so aufgefallen, aber ständig wohnte irgendein Schmarotzer bei uns. Einer hat sogar mal für dreihundert Mark von unserem Apparat aus telefoniert. Und als ich das Geld von ihm haben wollte, da war er noch empört und fand das unsozial. Und Otto hat solche Leute noch unterstützt und verteidigt. Die Typen haben geklaut wie die Raben, die Kinder bedroht, und Otto fand das alles immer verzeihlich. Wochenlang hatten wir oft kein Auto, weil sich das irgendwer dringend ausleihen musste. Wenn jemand in einer sogenannten Notlage war, genügte ein Anruf, und Otto sprang. Selbst bei Sebastians Geburt war er nicht dabei, weil er mal wieder woanders den Samariter spielte. Es ging einfach nicht. Die Scheidung war die einzige Lösung. Schon allein, um die Kinder zu schützen. Und um endlich ausreichend Geld zu haben, uns über die Runden zu bringen. Denn als das Geld plötzlich ‹Unterhaltszahlung› hieß, da war regelmäßig genug da. Da fühlte er sich dann auch mal für uns verantwortlich und nicht nur für all die armen, von der bösen Welt so schmählich Gebeutelten.»
«Sie haben …», aber Toppe unterbrach sich selbst.
«Ja, natürlich habe ich ihn noch liebgehabt. So was kann man doch nicht einfach abstellen. Er war ja auch liebenswert, nur eben keiner, mit dem man zusammenleben konnte. Nicht einmal überleben.»
«Wie alt sind Ihre Kinder?»
«Katharina ist dreizehn, Lisa ist zehn und Sebastian gerade sechs.»
«Hatten die Kinder noch regelmäßig Kontakt zu ihrem Vater?»
«Ja, natürlich. Wir haben uns, so gut es ging, gemeinsam um sie gekümmert. Wir haben auch ein gemeinsames Sorgerecht. Es sind die einzigen Kinder, die ich kenne, die nicht unter der Scheidung gelitten haben. Vermutlich, weil Otto vorher sowieso nie da war, und wenn, war er immer mit einem anderen Menschen beschäftigt.»
«Aber Sie hatten jetzt getrennte Haushalte?»
«Ja, sicher, sonst wäre das ja alles völlig absurd gewesen. Nein, wir sind schon getrennte Wege gegangen.»
«Aß Ihr Mann gerne Negerküsse?»
Sie stutzte. «Wie kommen Sie denn darauf?»
«Es standen welche auf dem Tisch neben dem Sessel.»
«Ja? Er war verrückt nach Schokoküssen. Schon immer.»
«War das bekannt?»
«Ja, natürlich. Jeder, der ihn kannte, wusste das. Er bekam oft welche geschenkt. So als ‹Dankeschön› von seinen ‹Schützlingen›. War das Gift in den Schokoküssen?»
«Das wissen wir noch nicht sicher. Ihr Mann war im März in Worcester?»
«Ja, für eine Woche. Er ist Vorsitzender dieser Städtepartnerschafts-Initiative.»
«Wer ist denn da alles mitgefahren?»
«Die Bigband der Kreismusikschule. Aber sonst? Ich weiß nicht … Meinen Sie …», sie sah ihn aus weiten Augen an, «meinen Sie, dies hat was mit den beiden Morden an den Bigband-Musikern zu tun?»
«Ja. Hat Ihr Mann Ihnen von der Reise erzählt?»
«Wenig.» Sie wirkte verstört. «Ich war auch nicht so sehr interessiert.»
«Ist irgendetwas Besonderes vorgefallen auf dieser
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