Grenzgaenger
wieder an, «warum macht der es uns so leicht, ihn zu schnappen? Fingerspuren! Das ist wirklich lächerlich. Wenn er doch andererseits so intelligent ist.»
Reimann legte das Besteck aus der Hand und grinste schief. «Ich hab schon Patienten gehabt, die haben eine Tankstelle überfallen und nahe beim Tatort eine Tasche hinterlassen, in der ihre Gehaltsabrechnung steckte, mit Namen und Adresse.»
Toppe lachte ungläubig, aber Reimann sagte: «Ich denke, es gibt tatsächlich in jedem von uns so etwas wie ein unbewusstes Strafbedürfnis. Es ist so etwas wie der unbewusste Wunsch, erwischt und endlich gestoppt zu werden.»
Toppe runzelte die Stirn.
«Ja», nickte Reimann, «auch bei Ihrem Täter haben die Morde augenscheinlich keinerlei kathartische Wirkung. Er muss doch immer weitermachen. Dieser Mensch sitzt auf einem Karussell, das sich schneller und schneller dreht.»
«Was geht in ihm vor?»
«Ich denke mir, der Mann ist einfach am Ende. Die Morde sind der Endpunkt einer langen Entwicklung.»
Toppe fragte sich im Stillen, ob diese Annahmen nicht nun doch zu weit in den Bereich der Spekulation reichten. Aber eigentlich war es egal. Es tat gut, Sachen zu Ende zu denken. Das Karussell dreht sich immer schneller, dachte er, keine kathartische Wirkung. Und er fühlte, wie sein Magen mit all dem guten Essen sich ruckartig hob, und trank schnell einen Schluck Wein, aber er fragte doch: «Bringt er noch jemanden um?»
«Entweder noch einen oder sich selbst. Das ist genauso möglich.»
«Wieso sich selbst?»
«Nun, der Selbstmord als letzte Inszenierung und Ausdruck eines Gefühls von Größe. In den Schuldgefühlen der Zurückbleibenden unsterblich werden. Ausdruck von Rache und Wut.»
«Glauben Sie, dass auch die anderen Leute aus der Bigband besonders gefährdet sind?»
Reimann schüttelte entschieden den Kopf.
«Nein, ich glaube nicht, dass es etwas mit einer Gruppenzugehörigkeit zu tun hat. Es scheint mir eher an der Art der persönlichen Beziehungen zu liegen. Ich spinne einfach noch mal so vor mich hin. Welche verbindenden Elemente gibt es direkt zwischen den Personen? Ich sehe da zunächst mal, dass alle drei, Jochen Reuter zumindest zeitweise, in sozialen Berufen tätig waren, also Helfer.»
«Ja, und Jochen Reuter und José Bruikelaer waren zusammen in der Bigband, Reuter und Hetzel waren mal Schüler und Lehrer. Zwischen Hetzel und Bruikelaer gibt es bis jetzt noch gar keine Verbindung. Aber alle drei waren zusammen in Worcester.»
«In Worcester?»
Toppe erklärte.
«Vielleicht liegt dort das …», Reimann zögerte, «… missing link. Mir scheinen die Morde etwas mit dem Grad der Bekanntschaft des Täters zu den Opfern zu tun zu haben. Irgendetwas am Verhalten der Leute, zum Beispiel auf dieser Fahrt, muss den Entschluss, sie zu töten, ausgelöst haben.»
Toppe erschauerte wieder.
«Das hieße, jeder, der diesen Täter kennt, ist gefährdet.»
«Ja, vereinfacht gesagt, jeder, der ein ähnliches Verhalten an den Tag legt wie das, das ihn dazu gebracht hat, die anderen umzubringen.»
Sie sagten beide nichts mehr.
Toppe sah auf seine Hände.
«Sollen wir noch einen Nachtisch nehmen?», fragte Reimann dann.
Sie bestellten beide eine Zabaglione.
Reimann sprach seinen Gedanken aus. «Ich habe das Gefühl, dass der Täter sich zunehmend in seiner Welt verliert.»
«Ja», bestätigte Toppe düster, «das dachte ich auch gerade. Er versucht immer weniger, seine Haut zu retten.»
«Es ist fast so, als richte er seine Opfer hin.»
Der Kellner brachte die Zabaglione.
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Zweiundzwanzig
Im Büro war alles dunkel. Toppe wusste selbst nicht, warum er sich noch hierher hatte fahren lassen.
Auf seinem Schreibtisch fand er einen Zettel von Breitenegger:
‹Zwei Anrufe für dich: a) deine Frau, b) ein Herr Neumann aus Büderich – privat. Bin zu Hause zu erreichen, morgen um acht hier. Günther.›
Er ertappte sich dabei, dass er einfach dasaß und einzelne Barthaare ausrupfte. Er hatte an gar nichts gedacht. Müde rappelte er sich hoch und bestellte ein Taxi.
Gabi saß im Wohnzimmer und sah fern. Durch das offene Fenster konnte er hören, wie sie das Gerät abschaltete, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Sie kam ihm entgegen und küsste ihn leicht.
«Na, was macht der Fuß?»
«Nicht gut.»
Er humpelte ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa fallen und streckte sich lang aus. Mit geschlossenen Augen lag er still.
Sie ließ ihn, bewegte sich leise im Zimmer,
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