Grenzgaenger
waren locker und oberflächlich. Sie spielte in der Bigband der Kreismusikschule Saxophon. Mehr ist da nicht.
Jochen Reuter war früher einmal Sozialpädagoge und hat sich dann später für eine Karriere als Bassist entschieden. Mit eher durchschnittlichem Erfolg. Er lebte allein, hatte eine Freundin in Düsseldorf, bei der er auch zeitweise wohnte. Außerdem hat er einen drogenabhängigen jüngeren Bruder und eine alleinstehende Mutter, um die er sich wohl lange hat kümmern müssen.
Tja, und Otto Hetzel ist so ein klassischer Helfer.» Er gab Karin Hetzels Schilderung ziemlich wortgetreu wieder.
Reimann hatte aufgehört zu essen. «Finden Sie nicht, dass der Täter seine Informationen über seine Opfer optimal genutzt hat?»
«Wieso?», fragte Toppe und versuchte, eine Gräte herauszuporkeln, die zwischen seinen Schneidezähnen feststeckte.
«Na, das ist doch eigentlich augenfällig.» Reimann war in Fahrt gekommen. «Ihr Täter bringt jeden auf die Art um, die zum Opfer passt. Nehmen wir die Krankenschwester. Das klassische Klischee: allein lebende Frau ohne Freund, sexuell unbefriedigt. Was macht sie also? Sie hängt sich auf. Dann Jochen Reuter, auch eine wunderbare Inszenierung. Ihn bringt er mit einer Spritze um. Das passt doch perfekt zum freaky Musiker. Oder kennen Sie einen Jazzmusiker, der keine Drogen nimmt? Auch wieder ein Klischee. Und zuletzt Hetzel. Der muss die soziale Amme spielen. Hetzel ist einer, der die Leute nach außen hin sozial unterstützt, sich tatsächlich aber nicht von anderen Menschen abgrenzen kann. Das, was nach außen hin so wunderbar unterstützend aussieht, ist nichts anderes als Missbrauch. Warum? Weil soziale Ammen wie Hetzel genau das verhindern, was sie angeblich erreichen wollen, nämlich Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Sie füttern die Leute wie Säuglinge, weil sie selbst darauf angewiesen sind, dass andere Ansprüche und Forderungen an sie stellen, ihre Hilfe benötigen. Das lässt sie sich wichtig fühlen, hebt ihre Selbstachtung, steigert ihr Selbstwertgefühl. Auch wenn sie sich nach außen hin darüber beklagen.» Er überlegte kurz. «Ich glaube, zumindest die beiden Männer hat der Täter näher gekannt. Und zudem erfasst er situative Gegebenheiten blitzschnell und genau.»
Toppe schaute fragend auf.
«Sie sagten doch, das Zimmer der Krankenschwester war penibel aufgeräumt – also spült er die von ihnen beiden benutzten Tassen. Bei Reuter war Chaos nach der Fete, also lässt er das Glas einfach stehen.»
Aber Toppe war nicht zufrieden. «Sie haben den Mann so beschrieben, als sei er ganz schön durch den Wind. Wie kann er denn dann eine Situation so gut intuitiv erfassen und auch noch intelligent handeln?»
«Menschen wie Ihr Täter haben feine verstandesmäßige Sensoren, man könnte auch sagen ‹kognitive Antennen› für die Beschaffenheit von Menschen und Situationen entwickeln müssen», erklärte Reimann. «Warum mussten sie das? Weil sie nie erfahren haben, dass man in Beziehungen zu anderen Menschen Sicherheit, Geborgenheit und Wohlbehagen finden kann. Sie haben lernen müssen, dass sie für andere Menschen immer Mittel zum Zweck waren, das bedeutet, sie kennen nichts anderes und versuchen daher, ihre Mitmenschen stets unter Kontrolle zu halten. Wenn ihnen jemand zu nahe kommt, geraten sie in Panik. Sie sind dann gezwungen, das, was sie an Beziehung gerade aufgebaut haben, wieder kaputtzumachen. Wie macht man das am besten? Man nutzt andere schon fast parasitär aus, stellt die Beziehung immer wieder auf die Probe, bis die anderen aufgeben und sagen, das war’s. Und damit wird das Weltbild des Täters bestätigt. Menschen wie er ziehen ihr Selbstbewusstsein, ihr Gefühl, was oder wer sie sind, nur daraus, dass sie andere in ihrem Sinne manipulieren. Für dieses Gefühl der Größe sind sie bereit, einiges zu opfern.»
Toppe fluchte leise. Der Tintenfisch war zwar lecker, aber entweder zu zäh, oder das Messer war zu stumpf.
«Zweimal sind wir fast auf ihn reingefallen», schimpfte er unterdrückt. «Bei der Bruikelaer sah es so eindeutig nach Selbstmord aus, und beim Hetzel war der plötzliche Herztod sogar schon ärztlich bescheinigt. Wenn ich nicht vorher das Foto gesehen hätte … Na ja, beide Male war es eigentlich Zufall, dass wir schließlich auf Mord gekommen sind.»
Er schob sich die letzte Gabel mit Blattspinat in den Mund und lehnte sich dann zurück. Reimann kämpfte noch mit seinem Tintenfisch.
«Aber», fing Toppe
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