Grenzgaenger
Liebchen», rief Mama. «Nur noch einen Moment, Schatz.»
Anna nahm Mamas Nagelschere, die da auf dem Tischchen lag, und schnitt ein kleines Loch ins Sofakissen.
«Wann ist das passiert? Am Donnerstag? Das gibt’s doch wohl nicht. Und da kommen Sie erst heute? In meinem Sonntagsdienst! Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun?»
Der diensthabende Arzt hatte sich in seiner ganzen Leibesfülle vor Toppe aufgebaut. Er musste einiges über zwei Zentner wiegen, und er war mindestens 1,90 m groß. Sein Kopf wirkte im Vergleich zu seiner mächtigen Gestalt unnatürlich klein, und er hatte die größten Ohren, die Toppe je gesehen hatte.
«Lisbeth, pack ihn in den AOK-Chopper und fahr ihn zum Röntgen», polterte er die Krankenschwester an.
Toppe fühlte sich hilflos. Obwohl er die Art des Arztes unmöglich fand, hielt er den Mund.
Das Röntgen war ziemlich unangenehm, aber nicht halb so schlimm wie die ‹fachmännische› Untersuchung.
Er musste eine halbe Stunde im Rollstuhl auf dem Gang warten. Gabi saß die ganze Zeit neben ihm, aber sie sagte nicht viel.
«So, dann kommen Sie mal wieder.» Der Arzt rollte ihn selbst ins Untersuchungszimmer. Er deutete auf die Röntgenbilder, die dort am Schirm hingen.
«Da haben wir’s: Weber C, Außenknöchelfraktur.»
«Gebrochen?»
«Sag ich doch. Und da laufen Sie drei Tage drauf rum, Mann! Muss operiert werden.»
«Das geht nicht.»
«Na, so was hab ich gerne. Ich sage Ihnen, das muss operiert werden.»
«Sofort?»
«Nein, nächstes Jahr. Jetzt mal im Ernst, Herr Toppe. Damit ist nicht zu spaßen. Und Sie haben doch auch Schmerzen.»
«Schon, es ist nur …» Toppe versuchte zu erklären, warum er noch ein paar Tage Zeit brauchte, aber der Arzt blieb stur. «Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden. Das müssen Sie mir unterschreiben, dass Sie gegen ärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung gehen, Herr Toppe.»
Toppe unterschrieb, bekam einen Gips bis zum Knie, seine Gehstützen in die Hand gedrückt und war entlassen.
«Du bist ja so unvernünftig, Helmut», schimpfte Gabi leise, als sie auf den Aufzug warteten.
Toppe ließ sich in seinen Sessel fallen und legte das Gipsbein vorsichtig auf den Tisch. So war es viel besser auszuhalten. Das Telefon klingelte.
«Nein, danke», hörte er Gabi recht ungehalten sagen. «Ich koche gerade selber.»
«Es war nur Mutter. Sie wollte uns zum Essen einladen», rief sie dann aus dem Flur. «Willst du Sauce zu deinem Steak?»
«Ja», krächzte Toppe und räusperte sich, «ja, bitte, mit viel Knoblauch.»
Die Terrassentüren waren weit geöffnet. Oliver kickte einen Ball gegen die Garagenwand. Es schepperte laut, wenn er aus Versehen die Tür traf. Die Vögel zwitscherten unverschämt laut. Alles roch nach Frühling. In Toppe war es eher winterlich.
Krankenhaus, Operation. Und immer noch diese Warterei.
Jetzt war Astrid bei Anne Martini. Konnte er sie dort wirklich allein lassen?
«Papa?» Christian hatte sich auf dem Fußboden vor seinem Sessel niedergelassen. «Ich hab gelauscht gestern Abend.»
«Aha.»
«Ihr wisst jetzt, wer der Mörder ist, ne?»
«Ja.» Er strich seinem Sohn über den Kopf.
«Und jetzt sucht ihr den?»
«Ja.»
«Papa?»
«Hm?»
«Warum hat der die alle ermordet?»
Der Tag zog sich in die Länge. Nach dem Mittagessen legte er sich aufs Bett und versuchte zu schlafen.
Gabi und die Kinder spielten Federball auf der Schafwiese.
Es klingelte.
Er hörte, wie Gabi ‹Hintenrum!› rief und dann van Appeldorns Stimme. Schnell rappelte er sich auf. «Ich komme», rief er aus dem Fenster.
«Und?» Gespannt humpelte er van Appeldorn entgegen.
«Nee, nichts», winkte Norbert ab. Er sah sehr müde aus. Unter dem schwarzen Haarschopf wirkte sein Gesicht fahl und schlaff.
«Ich wollte was Privates mit dir besprechen.»
«Wollt ihr denn nicht reingehen?», fragte Gabi.
«Du kannst ruhig dabei sein», sagte van Appeldorn und setzte sich auf einen der Gartenstühle. Er stutzte. «’n Gipsbein? Wie kommst du denn plötzlich da dran?»
Aber als Toppe erzählte, hörte er kaum richtig zu.
«Ich hol uns mal Kaffee.» Gabi verschwand in der Küche.
Van Appeldorn war ganz sachlich, fast kühl in seiner Schilderung.
«Geteilter Erziehungsurlaub?», fragte Toppe.
«Ja, ich würde dann für ein halbes Jahr ausfallen.»
«Finde ich prima», sagte Gabi. «Das ist wirklich eine gerechte Lösung.»
«Ja», antwortete van Appeldorn und sah an ihr vorbei.
«Und hinterher?», wollte
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