Grenzgaenger
Toppe wissen.
«Hinterher sehen wir weiter. Vielleicht nehmen wir uns eine Kinderfrau.»
«Du siehst nicht so richtig glücklich aus dabei», bemerkte Gabi.
«Hm? Ach was, ich bin bloß müde. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.»
Sie strich ihm flüchtig über seine Hand. «Wenn das Kleine erst da ist, sieht alles ganz anders aus, glaub mir.»
«Vielleicht.» Er stand auf. «Dann will ich mal wieder. Ich leg mich erst mal aufs Ohr. Was Sinnvolles können wir ja doch nicht tun.»
«Komm endlich ins Bett», rief Gabi schon zum zweiten Mal.
«Ja, sofort», rief er zurück und schaltete weiter die Programme durch.
Sie murmelte etwas.
Jetzt musste Breitenegger bei der Martini sein.
Wo mochte dieser Küsters nur stecken? Wieso fiel keinem das Auto auf? Ob er es bei irgendwem untergestellt hatte? Vielleicht war er auch über die grüne Grenze nach Holland rüber. Dann wäre er erst mal in Sicherheit.
Als die Nationalhymne lief, schaltete Toppe den Fernseher ab und humpelte ins Bett.
[zur Inhaltsübersicht]
Sechsundzwanzig
Er wachte auf, weil er fror.
Seine Kleider waren klamm und klebten kalt am Bauch und zwischen den Schulterblättern.
Er hatte nicht daran gedacht, das Fenster offen zu lassen, bevor er einschlief. Jetzt waren die Scheiben von seinem Atem dick beschlagen, satte Tropfen bahnten sich ihren Weg und zeichneten ein wirres Streifenmuster.
Als er mit der Zunge an den Zähnen entlangfuhr, spürte er einen stumpfen, pelzigen Belag. Es schmeckte nach Jauche.
Ächzend richtete er sich halb auf und ließ sich über die Lehne nach vorn auf den Fahrersitz rutschen. Sein Darm machte eine langsame Drehung.
Im Rückspiegel konnte er sein Gesicht sehen. An seinen Lippen klebte angetrockneter, bräunlicher Speichel, der zähe Fäden zog. Der Ärmelknopf seines Parkas hatte auf seiner Backe einen tiefen, flammroten Abdruck hinterlassen.
Er hatte Hunger. Das Stück Weißbrot auf der Ablage, das er heute früh hatte essen wollen, war durch die Feuchtigkeit pappig aufgedunsen und ungenießbar.
Das nächste öffentliche Klo war am Minnoritenplatz. Was für eine Scheißstadt.
Andy und Gerd und die drei Weiber – wieso hatten sie ihn vor die Tür setzen müssen? Wohngemeinschaft nannten die sich – der blanke Hohn. Hätten die ihm nicht wenigstens Zeit geben können, bis er etwas anderes gefunden hatte? Vier, fünf Tage nur, dann hätte er nicht in diesem Scheißauto pennen müssen.
Erbärmliche Spießer – alle, wie sie da waren.
Grimmig kratzte er sich den Belag von den Zähnen und lutschte den Finger ab.
Sprit hatte er auch keinen mehr. Höchstens noch für dreißig, vierzig Kilometer.
Mit klammen Fingern klaubte er die letzten Münzen aus seiner Parkatasche: 9,86 DM. Nicht einmal zehn Mark für die nächsten zwei Wochen. Und selbst das nützte ihm heute nichts. Die Läden hatten alle dicht – Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen!
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen durch die Seitenscheibe. Halb neun.
Er beugte sich vor und sah an der alten Befestigungsmauer hinauf, an deren Fuß er den Wagen letzte Nacht abgestellt hatte. Hoch oben zwischen den Ulmengipfeln konnte man den Schwanenturm erkennen.
Sein Darm wand sich wieder, diesmal so energisch, dass er die Fahrertür aufstieß und hinausstürzte.
Scheiße, er hatte nicht einmal ein Stück Papier.
Hastig ließ er die Hose runter und hockte sich zwischen Mauer und Stoßstange. Er hatte gerade noch Zeit, den Brennnesseln auszuweichen, die dort in Unmengen wuchsen.
Die Glocken der nahen Unterstadtkirche begannen zu läuten.
«Papa, da kackt einer.» Er konnte das Kind nur hören.
Schnell zog er die Hose hoch und ging um den Wagen herum. Als er sich auf den Sitzen fallen ließ, glitschte es zwischen seinen Arschbacken.
Da gingen sie an seinem Auto vorbei, zwei Kinder, ein Mann und eine Frau. Recht fein ordentlich nebeneinander. Auf dem Weg zur Kirche, in ihren Sonntagskleidern, sauber gewaschen, glatt rasiert und mit Duftwässerchen ihre menschlichen Ausdünstungen kaschierend.
Ja, geht ihr nur, ihr erbärmlichen Spießer. Was habt ihr schon erreicht! Alles immer schön ordentlich: Taufe, Kommunion, Hochzeit, und samstags zur Beichte. Ein kleines Häuschen, den polierten Mazda vor der Tür, in der Schrankwand den Videorecorder. Die Kinderlein hübsch brav aufs Gymnasium, ein Häppchen für Papi, ein Küsschen für Mama. Alles, wie’s sich gehört: der Kegelausflug, das Kaffeekränzchen, der Samstagsabendroutinefick und
Weitere Kostenlose Bücher