Grenzgänger
einem Hügel stehen blieb. Es handelte sich um Eichen, deren Kronen weit über seinem Kopf ineinander wuchsen. Ihre Blätter raschelten, als wollten sie ihn begrüßen.
Kay schloss für den Augenblick die Augen. Er hatte aufgehört zu singen.
Vorsichtig kniete er vor der mittleren Eiche nieder und bettete Ariens schlaffen Körper auf das Gras davor. Eine Weile war sie steif und kalt in seinen Armen gewesen, aber jetzt sah sie aus, als würde sie jeden Moment die Augen aufschlagen und sich erheben.
Kay stand auf. »Du hast uns unsere Tochter gebracht?«, wisperte der Wind an seinem Ohr. Kay schauderte.
»Ein Kind?«, fuhr der Wind fort.
»Noch ein Kind, wie wir«, wisperte eine andere Stimme.
»Durch wessen Hand?«, fragte jemand leise.
Kay presste die Lippen aufeinander, als er versuchte, den Chor der Stimmen auseinander zu halten. Einige von ihnen klangen so jung…
»Durch die Hand eines Vampirs«, sagte er. »Einen Grenzgänger.«
»Das ist Krieg!«
Die Stimmen heulten nun durcheinander. Kinder, Alte… Der Mord an einer der ihren ließ sie aufbrüllen und das Chaos schwoll in Kays Ohren zu einem Orkan an.
»Nein!« Kays Stimme war scharf und sie durchschnitt die anklagenden Schreie. »Kein Krieg mehr! Ich habe sie nicht hergebracht, damit die gleichen Fehler wiederholt werden!«
»Sie ist von deinem Blut!«, schrie der Sturm zurück. Diesmal war es nur eine Stimme. Die Stimme einer Frau.
Kay zuckte zusammen. Sie hatte er am meisten gefürchtet. »Deswegen ist sie nun hier, Brinna«, sagte er leise.
Diesmal brachte der Wind nicht nur ihre Worte zu ihm. Diesmal war es auch Brinnas sanfte Hand, die ihn streichelte. »Aber ihr Mörder lebt auch noch. Ebenso wie ihr Kind.«
Der Seelie-Sidhe fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Was soll ich also tun?«, fragte er den Wind.
»Das, was deine Aufgabe ist. Räche die Mutter. Schütze das Kind.«
»Und wenn ich das nicht kann? Oder nicht will?«
Lippen, so kalt wie Nordwind berührten seine Stirn. »Du willst, Liebster. Sonst wärst du nicht hierhergekommen.«
»Es ist so schwer, Brinna. So hart.«
Kay schüttelte leise den Kopf. Aber niemand antwortete ihm. Der Wind hatte sich gelegt und alles schwieg.
Der Seelie-Sidhe kniete sich wieder vor die Eichen.
Ich fuhr mit dem Taxi zum Büro. Samhiel hatte mir versprochen selbst nach Hinweisen zu Roumonds Aufenthaltsort zu suchen, und später nachzukommen.
Als ich die Büroräume betrat, war alles still und kein Licht brannte. Ich schaltete es an und versuchte Kay und Feng zu erreichen. So langsam fragte ich mich, warum die beiden Handys hatten. Wenn es darauf ankam, war niemand zu erreichen.
Müde fuhr ich mir über die Augen. Samhiel hatte mich gedrängt, mich zumindest etwas auszuruhen ehe ich weiterfuhr, aber ich hatte ihn ignoriert. Ich musste mich bewegen, brauchte etwas, auf dass ich mich konzentrieren konnte. Wenn ich stehen blieb, war die Erinnerung schneller als ich und würde aufholen.
Ich lehnte mich zurück und bemerkte dabei den schmalen Briefumschlag auf meinem Schreibtisch. Mein Name stand darauf, in einer altmodischen, verschnörkelten Schrift. Weder Absender noch Adresse oder eine Briefmarke waren darauf zu sehen.
Ich setzte mich aufrecht hin und öffnete den Brief.
Der Feyteil in dir beeinflusst dein Aussehen. Sieh dich im Spiegel an und erinnere dich an dein altes Gesicht
.
Mehr nicht. Der Brief musste von Kay kommen. Sonst hätte mir keiner Ratschläge dazu gegeben, was dieses Feyzeug mit mir anstellte.
Die Veränderung meines Haares hatte ich ja bereits in Elandros Bordell bemerkt. Anscheinend war sie weiter fortgeschritten. Nicht nur mein Haar funkelte, auch meine Augen hatten ein tiefes Blau angenommen. Je nachdem, wie ich den Kopf drehte, reflektierte es in den seltsamsten Tönen das Licht. Sie waren ein wenig größer, ein wenig schöner – ein ganzes Stück umwerfender.
Ich drehte den Kopf wieder zur Seite und hielt erstaunt inne. Zwischen den dichten roten Haarsträhnen stach etwas Spitzes hervor.
Ich schob einige davon zur Seite und sah mein Ohr. Mein ehemals rundes Ohr. Mein jetzt spitzes Ohr.
Wie verbrannt ließ ich das Haar wieder fallen und starrte mein Ebenbild an. Ein weiteres Mal hob ich das Haar, aber noch immer war da das spitze Ohr. Auch die Inspektion der anderen Seite brachte das gleiche Resultat.
Ich war mit dem Taxi hergekommen. Kein Wunder, dass mich der Fahrer die ganze Zeit durch den Rückspiegel beobachtet hatte. Ich sah aus wie ein
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