Grenzgang
anderenWorten, er hat darauf verzichtet, von seinem gefühlten Alter dauerhaften Gebrauch zu machen, und als er es jetzt tut, während er sich mit dem Handtuch die Haare trocken rubbelt, fragt er sich, ob die Macht der Gewohnheit ihm diese verknöcherte Ernsthaftigkeit schließlich doch aufgezwungen hat, so dass es starker Anreize bedarf, ihn einen Morgen lang empfinden zu lassen, was einmal sein alltägliches Lebensgefühl gewesen ist.
Hat er seine Jugend verloren wie andere die Fähigkeit, Klavier zu spielen? Durch pure Vernachlässigung?
Weidmann wäscht sich die Rasierschaumreste aus dem Gesicht, das ihm plötzlich mürrisch aus dem Spiegel entgegenblickt. Jedenfalls hat er sich eine Lebensform gewählt, die auf einem Fundament aus Pessimismus ruht, also dem besten Schutz gegen Enttäuschung, den menschlicher Geist je ersonnen hat. Und von diesem Fundament kann er nicht weichen. Nicht mehr. Keine Frau wird ihn von da weglocken, und sage sie mit noch so entwaffnender Offenheit, ein Orgasmus sei wirklich weit mehr, als sie von diesem Zusammentreffen erwartet habe. Und lache dabei so ungeniert, wie er es Kerstin Werner niemals zugetraut hätte. Es ist ein Sockel aus dem Stoff geplatzter Träume und gezogener Konsequenzen. Nichts, dem sich mit einem Lachen beikommen ließe.
Weidmann geht auf den Balkon und fühlt sich gefangen. Ausgeschlossen vom Sommer über dem Ort, belästigt von sich selbst wie von einem aufdringlichen Gaffer. Wieder einmal wird er spazieren gehen, dabei intensiv nachdenken und wissen, dass er machtlos ist gegen das, was Konstanze völlig zu Recht seine ›elende Schwarzseherei‹ genannt hat. Sie täuscht sich nur darin, sie für die Ursache des Übels zu halten, dessen Konsequenz sie im Lauf der Jahre geworden ist: des Rückzugs nach Bergenstadt in ein Dasein als Lehrer. Eine Kapitulation aus Trotz und ein zähes Festhalten an der Niederlage. Je länger er so lebt, desto wahrer erscheint ihm der Satz, dass man sich im Verlauf seines Lebens nur ein Mal verwandeln kann. Danach kann man sich nur noch verstellen.
Er räumt die beiden Gläser vom Tisch und fragt sich in der Küche zum ersten Mal, warum sie eigentlich vor Tagesanbruch und ohne Nachricht das Weite gesucht hat. Eine Frage, die er als heilsamen Schock empfindet, weil sie so spät und so plötzlich kommt, mitten hinein in sein missmutiges Philosophieren über Verwandlung und Verstellung.
Warum ist sie gegangen?
Zurück auf dem Balkon, sucht er weniger nach einer Antwort als nach dem Gefühl, das die Frage in ihm auslöst. Seine einzige Chance besteht darin, sich selbst dabei zu ertappen, wie er häufiger, intensiver und mit mehr Wärme an sie denkt als an andere Frauen. Oder mit mehr Angst, sie könnte ihm durch ihr Verschwinden mitgeteilt haben, dass es bei einer Nacht bleiben solle. Das Grußlose deutet darauf, das Tilgen der eigenen Spur. Aber andererseits: Wie billig ist das und wie herablassend ihr gegenüber, diese Suche nach Indizien für ein Gefühl, das er gar nicht hat. Als wolle er seinen Verstand von ihren Qualitäten überzeugen, mit Gründen und Argumenten, die nicht weiter reichen als die Feststellung, bestimmte störende Eigenschaften könne man Kerstin Werner nicht nachsagen. Stubenrein und beißt nicht.
Wie immer, wenn er so unzufrieden ist mit sich, will er Konstanze anrufen, um ihr mit ein paar zynischen Worten seinen Zustand zu schildern und sich von ihrer Reaktion überzeugen zu lassen, dass sie ihn zwar nicht mehr liebt, aber bis zur Gleichgültigkeit immer noch nicht vorgedrungen ist. Doch seit der Geburt ihres Kindes scheut er vor Anrufen zurück; Mutterglück ist eine Kategorie jenseits seiner Vorstellungskraft und er mehr denn je ein Eindringling aus der Vergangenheit, ein Fremder mit schmutzigen Schuhen. Es klingt absurd und stimmt trotzdem, dass auch nach Jahren der Trennung ihre Mutterschaft seine Einsamkeit noch vertieft hat.
Zu Mittag isst er Brot im Stehen, dann geht er spazieren; langsamer als sonst, den üblichen Pfad zum Rehsteig hinauf, den Rundweg entlang, von dem aus man die Bundesstraßesehen kann, die zur Sackpfeife führt. Grüne Hügel, blauer Himmel, weiße Wolken. Schon als Kind ist er hier gelaufen, zusammen mit seinen Eltern. Tannen und Fichten, Birken, Buchen und Eichen. Unten in der Senke der Karlshütter Weiher, wo er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Schlittschuh gelaufen ist und danach eine Woche im Bett gelegen hat mit Verdacht auf Gehirnerschütterung. Auf der
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