Grenzgang
das Sterbezimmer ihrer Mutter betreten, die Endstation, so wird es aussehen und riechen in seiner weiß getünchten Sterilität. Zum ersten Mal seit Jahren legt sie sich die Haare in einem Knoten um den Hinterkopf. Zieht eine Bluse an und einen dunklen Rock dazu.
In der Küche steht Daniel mit einem Kaffeebecher in der Hand gegen die Anrichte gelehnt.
»Seit wann trinkst du Kaffee?«
»Seit er mir schmeckt.«
»Solltest dich lieber ein bisschen hinlegen.«
»Bin nicht müde.«
»Und ist es nicht mehr üblich, dass wir am Tisch frühstücken?« Sie zeigt auf die Butterschale und die Marmeladengläser neben ihm. Gegenüber bei Meinrichs wird langsam einRollladen hochgezogen. Allgemeine Bettflucht in der hoffnungslos überalterten Anwohnerschaft des Rehsteigs.
Wortlos schiebt Daniel ihr die offene Brötchentüte hin.
»Offenbar willst du auch nicht wissen, wo ich die Nacht über gewesen bin.« Mit diesem Satz überrascht sie sich selbst. Sie will es ihm nämlich durchaus nicht sagen, oder will es doch, aber traut sich nicht, und kann trotzdem nicht widerstehen, an der Fassade dieser erwachsen wirkenden Diskretion zu kratzen, hinter der ihr Sohn sich verbirgt. Oder verbirgt er sich gar nicht? Ist das der Vorschein des neuen Antlitzes, das sich gerade aus der Schale seiner Unreife befreit und ihr beunruhigend souverän entgegenblickt?
»Nein«, sagt er und macht sich den Mund frei. Das Hemd, das er trägt, muss neu sein und signalisiert einen Fortschritt auch in seinem Kleidergeschmack. »Aber ich weiß, wer in der Grünberger Straße wohnt.«
»Und?«
»Und was?«
»Himmel, Daniel, deine Mutter ist ein Nervenbündel heute Morgen, merkst du das nicht? Sag was, mach einen Witz, sei böse auf mich, aber steh nicht so cool da, als wäre das alles nicht dein …« Dann weiß sie nicht, wie sie den Satz beenden soll. Geschäft? Kram?
»Leben?«, fragt er.
Kopfschüttelnd greift sie nach einem Brötchen und beißt hinein. Immerhin: Hunger hat sie. Ansonsten kommt Daniel ihr zwar verwandelt vor, aber die Rollen zu Hause sind trotzdem gleich geblieben, und sie verfällt immer wieder in diesen flehenden Mutter-Ton, den sie selbst nicht ausstehen kann. Und dann setzt er noch eins drauf und sagt einen Satz, den zu hören sie niemals, auch nicht in ihren wildesten Gedankenrallyes erwartet hätte. Einen Satz meilenweit jenseits des Punktes, an dem sie ihren Sohn vermutet hat:
»Ich lass mir von dir ja auch nicht vorschreiben, mit wem ich schlafe.«
* * *
Eigentlich fühlt er sich so, dass er gar nicht nachdenken müsste. Im Einklang mit sich und dem Wetter und einem Gefühl in den Gliedern, das nicht leicht zu beschreiben ist: als ob die Haut selbst sich erinnerte an den Kontakt mit ihresgleichen. Jede Pore durch sanfte Reibung geöffnet und dann sommerlichen Winden überlassen. Lange hat er nach dem Aufwachen im Bett gelegen und es sich nicht untersagt, am zweiten Kopfkissen zu riechen und zu denken: Weidmanns Heil.
Das war um neun.
Was sich später verändert hat, ist ihm verborgen geblieben, bis es sich in die Form dieser Frage gebracht und zwischen Frühstück und Mittagessen in seinem Kopf festgesetzt hat: Was hat sich verändert? Da dreht sich der Bezug des besagten Kissens bereits bei 95 Grad in der Waschmaschine. Seinen eigenen Gedanken merkt er den Schwung an, mit dem die vergangene Nacht ihn versorgt hat, den hellen Klang einer inneren Stimmgabel, der ihn länger als sonst unter der Dusche hält, weil ihm immer noch eine weitere Strophe dieser ollen Grenzgangsschlager einfällt. Der kindische Stolz des Mannes auf seine Potenz. Oder ist es etwas anderes?
»Mehr«, sagt er sich mit einer weißen Schaumkrone aus Shampoo auf dem Haupt. Er kann sich noch gut erinnern, mit sechzehn oder siebzehn Jahren fest daran geglaubt zu haben, dass Erwachsene anders sind. Ernst – im Sinne von unkindlich, unalbern, unheilbar immun gegen den Stich des Hafers. Aber je älter er wurde, desto überzeugter war er, dass in seinem Fall die Wandlung zur Ernsthaftigkeit nicht stattfand. Und aus dieser Überzeugung hat er etwa seit dem dreißigsten Lebensjahr ein gefühltes Alter gewonnen, das seinem tatsächlichen um eine nicht unerhebliche Zeitspanne hinterherhinkt – egal für wie ernst andere ihn halten und damit nicht falschliegen, aber eben auch nicht richtig. Ernst zu sein ist Teil seines Berufs, und er macht sich nicht immer die Mühe, den Diensthabitus beim Verlassen der Schule abzulegen. Für wen auch? Mit
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