Grenzgang
…
– Du musst dich einfach hinlegen.
Zehn Sekunden später hat sie den Kopf zur Tür gewandt und ist dem Blick ihrer Mutter begegnet und hat noch einmal Gute Nacht gesagt. Dann noch mal. Schließlich ist sie aufgestanden und in die Küche gegangen, ohne zu wissen, was sie dort will, und nun steht sie in der Essdiele, versucht sich zu erinnern, was sie zuletzt gelesen hat im Wohnzimmer, und weiß auch das nicht mehr. Alles weg bis auf ein Summen hinter den Schläfen und diese unheilvolle Stille. Horcht sie darauf? Den ganzen Tag über hat sie versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, und ist in diesem Moment noch erschöpfter von der vergeblichen Anstrengung als von der Arbeit im Garten. Kein Laut kommt aus Daniels Zimmer. Sie wäscht sich in der Küche die Hände. Den Gedanken, seinen Klassenlehrer anzurufen, hat sie verworfen oder zumindest verschoben, erst muss sie mit Daniel sprechen. Zypiklon ist auch keins im Haus. Sie öffnet den Kühlschrank, nimmt die Flasche Sekt heraus und sieht sich im Küchenfenster stehen, gegen die Anrichte gelehnt, die Flasche in beidenHänden. Bei Meinrichs ist alles dunkel hinter den großen Fenstern. Einmal ist Daniel am Nachmittag kurz auf der Terrasse aufgetaucht, sie hat ihn gesehen unten vom Beet aus, wie er eine Scheibe Brot und ein Stück kaltes Huhn aß, in sich selbst versunken und mit einem Blick im Gesicht, der sagte: Nicht näher als zehn Meter. Sie weiß nicht einmal, ob er sie überhaupt bemerkt hat da unten zwischen den Sträuchern.
Auf dem Esstisch stehen die Veilchen und haben viel von ihrem Zauber eingebüßt. Anitas Anruf steht noch aus, ansonsten ist ihr Geburtstag vorbei.
Er war dabei, hat Jürgen gesagt. Da wurden jüngere Mitschüler geschubst und unter Druck gesetzt, und auch ein paar Euro haben den Besitzer gewechselt. Ist das Erpressung? Für Jürgen eindeutig ja, aber der hat es nun mal gerne, wenn die Dinge sich juristisch präzise benennen lassen. Ihr dagegen fällt kein Wort ein für das Geschehen, also hat sie die Beete bearbeitet mit einem wahren Furor und nur manchmal innegehalten, um sich zu fragen, wie sehr die Nachricht von Andreas Schwangerschaft sie verletzt. Die Nachricht als solche wohlgemerkt, nicht etwa die Aussicht auf finanzielle Konsequenzen. Nicht allzu sehr, lautet die offizielle Antwort. Zum Glück gibt es Dinge, über die sie sich mehr Sorgen machen muss. Aber jetzt am Abend, während andernorts vielleicht Namen erwogen und lachend wieder verworfen werden, kommt die Diele, kommt das ganze Haus ihr schäbig vor. Leer und dämmrig.
Kerstin entfernt die Metallfolie vom Korken der Sektflasche. Unterdrückt ein Lachen, als ihr einfällt, dass Anita nie Prost oder Zum Wohl sagt, sondern immer: Alkohol ist keine Lösung. Die Folie wirft sie einfach in die Spüle. Ihre Finger sind müde vom Fassen der Hacke, ihr Rücken vom Bücken, ihre Schultern vom Zerren an dem hölzernen Griff. Die Kühle des Glases tut gut in den Handflächen, aber das ist das Einzige, was in diesem Moment guttut, und Selbstmitleid ist auch keine Lösung.
Plopp.
Herzlichen Glückwunsch, denkt sie und nimmt den erstenSchluck aus der Flasche, bevor sie im Schrank nach zwei Gläsern sucht. Trinkt sie sich hier Mut an für eine Unterredung mit Daniel, dem Schrecklichen? Einen Moment lang steht sie in der Küche und stellt sich vor, die offene Flasche durchs geschlossene Fenster zu schleudern, aus ihrer Küche raus und ins Meinrich’sche Badezimmer rein. Dazu den Blickkontakt mit Frau Meinrich durch zwei geborstene Fenster. Ihr Kopfschütteln: Erst lässt die Frau Nachbarin ihre Hecke wuchern, und jetzt wirft sie mit Söhnlein Brillant . Hermann, kommst du mal?
Noch einmal setzt sie die Flasche an.
Es ist schwierig, die eigene Wut zu domestizieren, wenn sie so hin und her schwankt zwischen Hass und diesem anderen Gefühl. Er hat sich kaum verändert (denkt sie jedes Mal, wenn sie ihn sieht). Äußerlich nicht und auch sonst: Strahlt immer noch dieses Selbstbewusstsein aus, das sie einen winzigen Moment lang für ihn einnimmt, gegen ihren Willen und obwohl sie weiß, dass es sich eigentlich nur um eine Leihgabe der Umgebung handelt. Einmal hat sie zu ihm gesagt: Du passt hierher, als hätte man den Ort für dich erfunden, aber in Wirklichkeit gilt das Umgekehrte. Der Ort hat ihn erfunden und zu dem gemacht, der er ist. Bloß kann sie schlecht behaupten, das nie attraktiv gefunden zu haben: seine Einfachheit und Durchschaubarkeit. Sogar diesen Anflug von
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