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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Selbstverliebtheit hat sie gemocht, solange er ein Beitrag zu Ausgeglichenheit und ehelicher Harmonie war. Er verfügt über diese ebenso beneidenswerte wie verabscheuungswürdige Begabung, stets mit sich im Reinen zu sein, notfalls ganz grundlos. Ein Mann, ein Wort, breite Schultern, ein Schwanz. Jemand, der hält, was er verspricht, und keinen Deut mehr.
    Mit anderen Worten: Ein Arschloch, sagt sie sich jetzt. Zeugt mit einer anderen Frau ein Kind, einer jüngeren und mit Verlaub dümmeren, und in genauer Abstimmung auf die flankierenden Maßnahmen des Gesetzgebers. In denen ist bestimmt von ›Zumutbarkeitsgrenzen‹ die Rede. Oder von zu schließenden ›Gerechtigkeitslücken‹. Das klingt zwar bürokratisch, stimmt aberhaargenau: Knapp diesseits dieser Grenzen und in einer ebensolchen Lücke hat sie in den letzten Jahren ihr Leben gefristet. Bloß ist sie nicht davon ausgegangen, es könnte sich um eine Gerechtigkeitslücke zu ihren Gunsten handeln, denn so hat es sich nicht angefühlt. Aushaltbar war es, mehr nicht. Es gab Zufriedenheitslücken, und sie ist auch schon mal an die eine oder andere Verzweiflungsgrenze gestoßen, aber im Großen und Ganzen war es auszuhalten. Und jetzt ist es damit bald vorbei. Kabinettsbeschluss.
    Der Sekt von Frau Preiss ist kühl und etwas zu süß und insofern seiner Käuferin nicht unähnlich. Kerstin sieht auf die Uhr: Will sie nicht Gefahr laufen, von Anitas Geburtstagsanruf unterbrochen zu werden, muss sie jetzt sofort mit Daniel sprechen. Die Sektgläser lässt sie auf dem Tisch stehen, nimmt stattdessen zwei alte Senfgläser aus dem Küchenschrank und geht die Treppe runter. Bleibt noch einmal stehen, um vergebens zu horchen in diesem engen Kellerflur, der nur von einem Lichtstreifen unter Daniels Tür erleuchtet wird und von dem fahlen Schimmer, der ihr aus der Diele gefolgt ist. Keine Musik auch sonst kein Geräusch.
    Sie klopft vorsichtig mit dem Flaschenhals.
    Nichts.
    »Wenn du nicht Heraus sagst, komm ich mit erhobenen Händen rein.« Ein Witz von früher, der früher einmal witzig war.
    Schweigen.
    Sie drückt die Klinke mit dem Ellbogen, betritt den Raum mit dem Rücken zuerst und spürt seinen Blick schon, bevor sie sich umgedreht hat: Auf dem Bett liegt er, die Arme unter dem Kopf, die Schuhe an den Füßen. Ein Gefangener in seiner Zelle. Buffalo steht auf seinem T-Shirt. Kurz streift ihr Blick sein Gesicht und irrt dann durch den nackten Raum. Er hat sich nie eingerichtet in diesem Zimmer, in dem er mit ausgestreckten Armen beinahe die Seitenwände berühren kann, hat keine Poster aufgehängt und die Bücher nicht aus den Kisten geräumt, nur sein Teleskop steht unter dem Fenster und setzt Staub an.Es kostet sie Überwindung, die Tür hinter sich zu schließen und die zwei Schritte bis zum Schreibtisch zu gehen, Flasche und Gläser abzustellen neben einem Stapel T-Shirts, den sie am Morgen reingebracht hat. Dieses Zimmer sagt: Mir geht’s nicht gut. Nur das. Es sagt nicht: Hilf mir.
    »Ich geb einen aus«, sagt sie.
    »Herzlichen Glückwunsch.« Er ist ihr nicht gefolgt mit dem Blick, hält lediglich den Arm nach oben wie einen Kerzenständer, und sie drückt ihm das Glas in die Hand.
    »Zählt nicht.«
    »Zählt nicht was?«
    »Gratulieren ohne angucken.«
    »Prost.« Er hebt den Kopf, gerade so weit, dass er sich das Glas an die Unterlippe setzen kann, schlürft und stellt es sich auf die Brust.
    Alkohol ist keine Lösung, will sie sagen, aber ihre Lippen zittern plötzlich.
    Möbel von früher, furniertes Irgendwas, grünlich und abgeplatzt an den Kanten. Sie sagt nichts. Sie will es ihm nicht leicht machen und nicht schwer, will nur, dass er von sich aus den Mund aufmacht, und weiß gleichzeitig, dass sie ihm nicht gewachsen ist, wenn es ums Schweigen geht. Schon lange nicht mehr. Auf dem Schreibtischstuhl nimmt sie Platz, Lehne nach vorne, sieht ihren eigenen Schatten an der Tür und versucht Daniels Blick zu folgen. Da ist ein feuchter Fleck in der Zimmerecke. Hinter ihr drückt die Nacht gegen das Fenster, die Schwärze zwischen Kastanie und Garagentor.
    »Wir könnten einen CD-Spieler kaufen«, sagt sie. »Einen tragbaren – zum Abwechseln.«
    »Hab keine CDs.«
    »Kaufen wir eben auch CDs. Oder brennen welche.«
    Er nickt. Klackt die Spitzen seiner Turnschuhe zusammen.
    »Das ist strafbar neuerdings. Raubkopierer kommen zum Vergewaltigen ins Gefängnis.« Reglos liegt er auf dem Bett, beinahe zu groß für die Matratze und zu groß für sich

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