Grenzgang
könnte darüber glücklicher sein als sie selbst. Aber in Wirklichkeit sagt er:
»Lieber Lars, warum sollte dich das interessieren?«
»Wenn an unsam Gymnasium Schutzgeld erpresst wird, interessiert das, glaub ich, ganz Bergenstadt. Da würden Leute dann zu Recht erward’n, dass was inner Zeitung steht.« Lars’ Finger weist durchs Schaufenster hinaus auf die andere Straßenseite. »Der Sohn von unserem Staranwalt, hört ma, soll ja auch dabei gewes’n sein.«
»Daniel Bamberger?« Anni Schuhmann hält sich vor Überraschung eine Hand vor den Mund, beruhigt sich aber schnell wieder. Bamberger ist natürlich keiner der Namen, die ihr zu Ohren gekommen sind. Jürgen Bamberger ist diesbezüglich über jeden Verdacht erhaben, denn nicht nur hat er einen Sohn, nein, er war es auch, der damals Lars Benner seine Andrea weggenommen hat. Aber die beiden Männer in ihrem Laden stehen einander plötzlich seltsam feindselig gegenüber, auch wenn ihr Neffe weiterhin mehr über die Schulter spricht und nach jedem Satz einmal zu ihr hinsieht, als wollte er ihr signalisieren: Unfug, das alles. Mach dir um mich keine Sorgen.
»Hör zu«, sagt Thomas jetzt, und Anni kann sich vorstellen, wie er vor der Klasse steht und mit dieser ruhigen, festenStimme … Im Grunde ist ja diese männliche Stimme Beweis genug, und sie könnte aufhören, sich solche schlimmen Gedanken zu machen, die am Ende doch nur dazu führen, dass sie vor dem Schlafengehen einen Wacholder trinken muss. Und manchmal noch einen für Heinrich. Wie bestimmt er das jetzt sagt: »Genau wie an jeder anderen Schule gibt’s auch an unserer manchmal Streit zwischen Schülern. Manchmal haben jüngere Schüler Probleme mit älteren – dann gibt es Lehrer, die sich darum kümmern. In manchen Fällen die Schulleitung. Aber wenn du glaubst, du könntest so eine Geschichte benutzen, um dich« – Thomas’ Finger weist nach draußen so wie vorher der von Lars – »an unserem ›Staranwalt‹ zu rächen, dann hast du etwas abenteuerliche Vorstellungen von deinem Beruf. Bleib lieber bei deinen Schützenvereinen und Goldenen Hochzeiten.«
»Gab’s Erpressungen, ja oder nein?«
»Nein, gab es nicht.«
»Is doch ne klare Aussage. Tschüss, Anni.«
»Tschüss, Lars. Grüß deine Eltern, ja?«
»Wird gemacht.« Dann ist er aus der Tür, und eine halbe Stunde später ist auch ihr Neffe gegangen, und Anni schließt den Laden ab. Wie immer hat er die Einladung zu einer Tasse Kaffee oben im Wohnzimmer abgelehnt. Sie tupft sich mit den Handrücken gegen die Augen, während sie durch den winzigen Flur zwischen Laden und alter Backstube geht. Hätte sie ihn fragen sollen? Ist es denkbar, dass er ihr so etwas antun würde? Im Treppenhaus hängen gerahmte Bilder an den Wänden; Anni hat es so eingerichtet, dass unten die ältesten Aufnahmen hängen: Familienfotos von vor ihrer Geburt, sie und Ingrid in ihren Sonntagskleidern, dann bei der Konfirmation in der Stadtkirche. Und so geht es die Treppe hinauf: Hochzeit, Heinrich bei der Entgegennahme des Meisterbriefes (fällt kaum auf, dass es sich in beiden Fällen um denselben Anzug handelt), Aufnahmen der Neffen und Nichten. Thomas Weidmann mit Schultüte. Mit zu langen Haaren. Schließlich mit Doktorurkunde und widerwilligem Gesichtsausdruck. Und natürlich Grenzgangsbilder: Erstschwarz-weiß, dann farbig, die Aufstellung auf dem Marktplatz und die feiernde Menge auf den Frühstücksplätzen. Alles ist üppiger und größer geworden im Lauf der Jahre. Bilder von Heinrich im Mohrenkostüm füllen den Flur im zweiten Stock. Eine ganze Reihe von Verwandten und Bekannten, wie sie von ihm gehuppcht werden. Lachende Gesichter mit schwarzen Backen. Nur entlang der Treppe zur Dachkammer ist noch Platz für die Fotos vom kommenden Grenzgang – und falls doch noch ein Wunder geschieht und ihre Gebete erhört werden: Für die Bilder von Thomas’ Hochzeit.
4
Sie steht in der Essdiele und weiß nicht, was sie weniger mag: die Stille im Haus oder ihr Horchen. Eine profunde Stille, ein Schweigen der Wände, in denen nicht mal ein Heizungsrohr oder die Wasserleitung gurgelt. Draußen sieht der Abend bereits wie Mitternacht aus. Sie hat im Wohnzimmer gesessen und in der Brigitte geblättert, bis ihre Mutter hereinkam, im Bademantel, am Stock und ohne Zähne, um Gute Nacht zu sagen.
– Gute Nacht, Mutter.
– Bitte?
– Gute Na-hacht.
– Ja. Sind die Fensterläden alle unten?
– Alles in Ordnung.
– Kopfschmerzen sind das wieder, ich
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