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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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unwillkürlich. In diesem Punkt ist sie ihrem Sohn nicht unähnlich: Anteilnahme von Fremden erregt ihr Spottbedürfnis, so als wäre sie selbst die einzige Person auf der Welt mit der Lizenz zum Mitgefühl mit Kerstin Werner, geschiedene Bamberger, als würden alle anderen automatisch den Tatbestand der unerwünschten Einmischung erfüllen. Und darauf stehen hochgezogene Augenbrauen und so ein Zucken im Mundwinkel, an dem zum Beispiel ihr Exmann mehr als einmal verzweifelt ist.
    »Sie dürfen«, sagt sie, »aber Sie können sich die Antwort auch denken.« Und wenn er jetzt sagt, dass er sie gerne von ihr hören will, aus alter Verbundenheit, dann wird sie ihn wohl in die Schranken weisen müssen.
    »Ja«, sagt er. »Was Daniel angeht, möchte ich Ihnen versichern, dass ich ihn sehr mag. Er ist ein sympathischer Kerl, eher still und sehr klug, und ich werde den Gedanken nicht los, dass das ein Teil des Problems sein könnte. Ich meine, seine Intelligenz gehört ihm noch nicht ganz, er ist sich irgendwie selbst voraus.«
    Sie ist ihm dankbar für sein Verständnis – und trotzdem:
    »Was er getan hat, sieht nicht nach einer Demonstration von zu viel Klugheit aus, oder?«
    »So meinte ich es auch nicht. Nennen wir es eben nicht Intelligenz, ich meine einfach, dass er mehr versteht, als er eigentlich verstehen oder verarbeiten kann. Und dass ihn das verunsichert und seine Persönlichkeit ins Ungleichgewicht bringt.«
    »Weshalb er Dinge tut, die ihn noch mehr ins Ungleichgewicht bringen?«
    »Weshalb er Dinge tut, die ihn stärker und selbstsicherer erscheinen lassen, als er ist. Übrigens sind Sie natürlich nicht verpflichtet, mit mir darüber zu sprechen. Es ist bloß meine Pflicht, Ihnen das Gespräch anzubieten.«
    »Ich weiß. Danke.«
    »Und es ist auch nicht meine Absicht, Ihren Sohn zu analysieren oder dergleichen. Es ist bloß, dass ich als Klassenlehrer auch etwas in der Bredouille bin, weil man von mir natürlich erwartet hätte, dass ich solche Vorkommnisse früher mitbekomme und unterbinde.«
    »Ja.« Soll sie sich jetzt für sein Ungemach entschuldigen?
    Sie hört eine Tür im Keller, ohne zu wissen, ob es ein Öffnen oder Schließen ist, ob Daniel also angefangen oder aufgehört hat, ihrem Gespräch zu lauschen. Und sie wird das Gefühl nicht los, dass Weidmanns Eifer, Daniel zu verstehen, noch übertroffen wird von seinem Bedürfnis, ihr zu zeigen, wie gut er ihn versteht.
    »Sind Sie noch dran?«, fragt er.
    »Ich bin noch dran, aber etwas ratlos, wie ich nun Ihrer Bredouille, wie Sie es nennen, begegnen soll. Ich weiß von alldem ja erst seit heute.«
    »Um Himmels willen, mit meinen Problemen wollte ich Sie nicht belasten. Nein, es geht darum: Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat Ihr Exmann heute mit Herrn Granitzny gesprochen, und die erste Frage ist nun, ob Sie ein solches Gespräch ebenfalls wünschen. Um Sie sozusagen offiziell von Seiten der Schule in Kenntnis zu setzen über das Geschehene und über das weitere Vorgehen.«
    »Ist das so eine Art Einladung zur Vorladung?«
    »So könnte man es nennen. Es ist aber Ihre Entscheidung. Auf jeden Fall möchte ich Sie bitten, die Einladung der Schule zum Elternsprechtag wahrzunehmen. Ist Ihnen die Einladung zugegangen?«
    »Ja«, lügt sie.
    »Wenn Sie möchten, gibt es auch die Möglichkeit, dass wir uns vorher treffen, und es müsste nicht in der Schule sein. Ich würde gerne ein paar Sachen erfahren. Ich habe den Eindruck, dass es über Daniels, sagen wir: nicht ganz gleichgewichtige Persönlichkeit hinaus vielleicht noch einen Grund gibt für sein Verhalten.«
    »Nämlich?«
    »Ich würde das ungern am Telefon besprechen.« Er will ihr lieber verständnisvoll in die Augen blicken und sagen: Ich hab dich doch schon mal getröstet. Wieder meldet sich ihre Spottlust, aber erstens wird zu Recht von ihr Kooperationsbereitschaft erwartet, zweitens ist sie nicht gewillt, in dieser Sache ihren Exmann zum Sonderbevollmächtigten zu erklären, und drittens: Sie muss reden, sie muss mit irgendwem reden, sie kann nicht noch einen und noch einen und noch einen Tag wie heute verbringen, sich im Garten den Rücken buckelig harken, ohne zu wissen, was zum Teufel mit ihrem Sohn los ist.
    »Verstehe«, sagt sie. Unten geht wieder eine Tür, und schlurfende Schritte bewegen sich Richtung Treppe. Dann die Treppe hinauf. »Was schlagen Sie vor?«
    »Ich richte mich nach Ihnen. Wenn Sie möchten, komme ich bei Ihnen vorbei. Wenn Sie an einem Nachmittag in die

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