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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Schulekommen wollen, finden wir auch da einen Ort. Wenn Sie einen Spaziergang am Rehsteig vorziehen …«
    Daniels Gesicht taucht über dem Dielenboden auf, zwischen den Gitterstäben des Treppengeländers. Ein anderes Gesicht jetzt, unbeteiligt, ungerührt. So guckt er, wenn er nicht zeigen will, dass ein Gespräch mit ihm – unter Aussparung gewisser sensibler Themen – grundsätzlich möglich ist.
    Ich beobachte meinen Sohn wie einen launischen Kater, denkt sie. Und hat Weidmann gerade ›Spaziergang‹ gesagt?
    »Das muss ich mir überlegen.«
    »Tun Sie das. Leider gibt es noch etwas, was ich Ihnen zwar nicht sagen muss, aber ich glaube, es Ihnen nicht ersparen zu können. Sie kennen Lars Benner?«
    »Ja«, erwidert sie, so kurz und knapp, als spucke sie Gift aus.
    Daniel wirft ihr einen Blick zu, der so viel sagt wie: Lass dich nicht stören, ich störe bloß.
    »Ich habe ihn heute zufällig in der Stadt getroffen. Er hat mich auf die Vorfälle in der Schule angesprochen, von denen er offenbar weiß, in vager Form jedenfalls. Fragen Sie mich nicht woher. Auf dem Land spricht sich eben nichts so schnell herum wie das, was niemanden etwas angeht.«
    »Weiter.« Sie hört Daniel in der Küche rumoren.
    »Ich weiß nicht, was er vorhat. Dieser Lars Benner ist ein durch und durch einfältiger Typ, scheint mir. Und jetzt glaubt er vielleicht, dass er, wenn er sich dieser Sache annimmt und sich für die einsetzt, die er für die Opfer der Geschichte hält, also Tommy Endler zum Beispiel, dass er sich damit … Verstehen Sie, was ich meine? Ist ja bekannt, dass er Ihren Exmann nicht mag.«
    Willkommen in Bergenstadt! Wo jeder jeden kennt und allen alles bekannt ist. Stört das außer ihr eigentlich niemanden?
    »Ja«, sagt sie. »Ich verstehe Sie gut. Vielleicht verstehe ich sogar ihn. Vielleicht würde ich an seiner Stelle genauso denken.«
    »Trotzdem werden Sie nicht wollen, dass diese Dinge demnächst im Boten stehen.«
    »Nein.« Daniel kommt mit der leeren Sektflasche in der einen Hand aus der Küche und hebt den Daumen der anderen, als wolle er sagen: Respekt, Mama. Tapfer, tapfer. Sie wendet den Blick Richtung Terrassentür, sieht den Strauß Veilchen auf dem Tisch und ist sich sicher, dass ihrem Sohn auch dazu noch eine Bemerkung einfallen wird. »Ich rufe Sie an.«
    »Gut.«
    »Auf Wiederhören.« Sie legt auf, ohne seine Verabschiedung abzuwarten. Zwanzig nach neun zeigt die Uhr.
    »Weidmann, stimmt’s?« Daniel spricht in den offenen Kühlschrank, aber laut genug.
    »Daniel, hör zu.«
    »Bist du sicher, dass du an meiner Stelle genauso denken würdest. Und falls ja: Wie denke ich denn?«
    »Wieso praktizieren wir beide nicht für den Rest des Abends das Prinzip getrennte Stockwerke?«
    Er kommt langsam aus der Küche, mit derselben ungerührten Miene.
    »Weil’s dir im Keller zu dunkel ist?« Dann schlurft er weiter, eine Scheibe Brot und ein Stück Wurst in der Hand und bleibt nur noch einmal stehen, das Gesicht hinter Gittern. »Aber vor Weidmann nimm dich in Acht. Der hat’s, wie man weiß, auf einsame Frauen abgesehen. Sind die Veilchen da von ihm?« Er verschwindet, bevor sie antworten kann, und ihr fällt sowieso nichts sein. Seine Zimmertür schließt sich, in der Essdiele tickt die Uhr. Niemals hätte sie den Sekt einfach so wegschütten dürfen. Sie presst die Lippen aufeinander und sperrt die Augen weit auf und glaubt sich zu erinnern, dass das am Morgen schon einmal geholfen hat. Mit einer Hand greift sie hinter sich und löscht das Licht. Dann knipst sie es wieder an. Melodramatisch will sie auch nicht sein. Sie muss da jetzt durch, und sie fragt sich, ob ihr Sohn gefühlskalt ist oder Weidmann Recht hat in seinem Verständniseifer. Sie selbst versteht nämlich gar nichts.
    Zum Beispiel auch nicht, warum Weidmann plötzlich mit ihr spazieren gehen will.
    Ihre Tränen, da sie nicht von zuckenden Schultern oder Schluchzen begleitet werden, lässt sie nicht als echtes Weinen gelten. Die gehören eher in die Kategorie Erschöpfung. Auf der Suche nach einem Geräusch nimmt sie den Telefonhörer ab und legt ihn wieder zurück auf die Gabel.
    Jetzt zum Beispiel. Jetzt wäre es die Aufgabe eines Mannes, im Wohnzimmer zu sitzen und von der Zeitung aufzublicken, wenn sie hereinkommt, zu nicken und mit einer Hand über ihren Nacken zu fahren, während sie erzählt. Er könnte ruhig ›Alles halb so wild‹ sagen oder ›Das wird schon wieder‹, sie verlangt keine übermännlichen Fähigkeiten.

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