Grenzgang
Himmel, er dürfte sogar die Augen verdrehen und sich anmerken lassen, dass er lieber über den nächsten Sommerurlaub sprechen würde. Nur da zu sein hätte er, physisch, männlich, beidhändig; einer, dem man irgendwann ohne Hintergedanken vorschlagen kann, ins Bett zu gehen.
Weiter geht sie selbst in Gedanken nur selten. Da ist eine Grenze, die sie lieber unbewusst überschreitet, im Traum manchmal oder morgens im Halbschlaf; dann krallt sie sich ins Kopfkissen, wälzt sich umher und kommt mehr zufällig auf ihrer eigenen Hand zu liegen. Dann duschen, lange und heiß, bis Fenster und Spiegel aussehen wie mit Papier beschichtet und ihre Haut eine Wärme absondert, die fast …
Let’s call it a day, hat Anita früher gesagt, wenn sie bis zum Morgengrauen zusammen in der Küche hockten und schließlich kaum noch aus den Augen gucken konnten vor Müdigkeit. Jetzt flüstert sie den Satz leise vor sich hin und spürt, wie müde sie ist, hundemüde. Ausnahmsweise erlaubt sie sich, auf das Zähneputzen zu verzichten. Sonst gibt es schließlich niemanden, der Nachsicht mit ihr hat.
* * *
»Mama, ich seh gar nichts. Ich sehe überhaupt nichts!«
»Daniel, ich hab’s dir schon mal gesagt: Frag Onkel Hans, ob er dich auf die Schultern nimmt.«
»Komm zu mir, junger Mann, ich nehm dich hoch.«
»Nein!«
So ging das schon den ganzen Morgen. Kerstin tauschte einen Blick mit ihrem Bruder, während Daniel sich an ihre Hüfte klammerte, den Kopf in ihre Seite drückte und ihn gleich darauf wieder nach vorne drehte, um in das Meer aus Rücken, Nacken und Hinterköpfen zu starren, das sich vor ihnen auf dem Marktplatz ausbreitete. Ganz Bergenstadt war an diesem ersten Grenzgangsmorgen auf den Beinen, reckte die Hälse und verfolgte den Einmarsch der Männergesellschaften und Burschenschaften.
»Was haben sie dem gestern bloß gegeben.«
»Lass gut sein Hans, er ist müde.«
»Ich bin nicht mü-de!«
»Dann hör auf zu jammern und komm auf meine …«
»Hans.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre Schläfen taten weh. Ein pulsierender, tickender Schmerz hatte sich dort festgesetzt, den jedes Geräusch ausschlagen ließ, so wie diese flimmernden Anzeigen an Stereo-Anlagen und Radios. Vom Kaltenbach herab ertönte Blasmusik, und über die Köpfe der Menge hinweg sah sie die Rehsteigfahne sich dem Marktplatz nähern, schwebend und schaukelnd wie eine Marionette über dem Rand einer Puppenbühne. Immer wieder kam der Vormarsch zum Stillstand, die Kommandos der Reiter mischten sich unter die Musik, bis sich in tausend kleinen Schritten eine Gasse bildete und die Männer weiter vorankamen.
Kerstin drehte sich um zu ihrem Bruder:
»Ich geh mit ihm ein Stück näher ran, da hinten, wo weniger Leute sind. Wir kommen wieder hierher zurück.« Sie nahm Daniel bei den Schultern und dirigierte ihn durch die dicht stehenden Menschenreihen. In sich spürte sie, wie einer nach dem anderen die dünnen Fäden rissen, an denen ihre Selbstbeherrschung hing. Zum Teufel mit Grenzgang, Blasmusik und diesen Gäulen, zum Teufel mit dem ganzen verdammten Bergenstadt!
»Au-a!« Daniels Gesicht war gegen einen Rucksack geprallt.
»Da vorne wird’s besser.«
»Ich verpasse alles, Scheiße, ich hab überhaupt nichts mitbekommen.«
»Da vorne siehst du den Rehsteig einmarschieren. Direkt vor uns.«
»Jetzt kommt der Mohr«, rief jemand, und sie verstärkte ihren Griff und schob Daniel auf den Platz vor dem Rewe-Markt zu, wo die Menschenmenge lichter wurde. Wie ein breiter Strom zogen die Hüte und winkenden Hände der Rehsteig-Männer den Marktplatz hinab, zügiger jetzt, die Fahne hatte schon beinahe den Brunnen erreicht. Von dort, wo sie Daniel hinsteuerte, würden wieder nur Rücken zu sehen sein, aber sie ging weiter. Zu viele Blicke auf ihrem Gesicht. Zu viel von allem.
Sie hatten kaum ein wenig Freiraum um sich, als unten bei der Bushaltestelle das Peitschenknallen der Wettläufer ertönte. Kleine Echos explodierten zwischen den Fassaden der Fachwerkhäuser. Daniel zitterte förmlich vor Wut und Enttäuschung.
»Wir gehen falsch, Mama. Wir müssen da runter, ich will endlich was sehen!« Seit dem gestrigen Abend hatte seine Stimme diesen Klang, als könnte sie Glas schneiden. Ein schrilles Organ des Protests. Er reagierte so empfindlich, als wäre seine Haut eine einzige offene Wunde, und Kerstin sah ihn an mit der Hilflosigkeit einer jungen Mutter angesichts ihres pausenlos schreienden Babys.
Da war kein Zelt! Da war
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