Grenzgang
überhaupt kein Zelt! Den ganzen Heimweg über hatte er das wiederholt, immer lauter werdend, so als wüte er gegen eine gemeine Unterstellung an, besinnungslos und blind. Er stieß die Worte einzeln hervor: Da – war – kein – Zelt! Spuckte sie den beiden Erwachsenen ins Gesicht, die ihn schließlich jeder an einer Hand nach Hause zerren mussten, während er sich mit gestreckten Beinen gegen den Boden stemmte. Und sie hatte kein gutes Gefühl gehabt, den ganzen Abend nicht. Da war es mit den Kopfschmerzen losgegangen.
Vor ihnen schloss sich die Gasse wieder. Sie standen abseits des großen Treibens, weiter weg von allem als zuvor, im Rückendes Geschehens. Kerstin vermied es, ihrem Sohn ins Gesicht zu sehen.
»Wir trinken einen Schluck, und dann gehen wir an der anderen Seite weiter, vor den Häusern.«
»Ich hab keinen Durst.«
»Aber ich.« Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und kramte zwischen Taschentüchern, Äpfeln und einer Bonbontüte nach der Aspirinpackung. Um sie herum standen ein paar Alte und Mütter mit Kinderwagen. Jemand versuchte vergebens, seinen Hund zu beruhigen. Weiter hinten, aus einem Fenster über dem Rewe-Markt blickte eine Frau mit Kopftuch, als schaute sie Kindern bei einem absonderlichen Spiel zu. Ohne die Packung hervorzuziehen, drückte sie sich zwei Aspirin in die hohle Hand, nahm die Wasserflasche aus dem Rucksack, schluckte die Pillen und trank. Wolken ballten sich über dem Marktplatz. In der Nacht war Regen gefallen – sie hatte es gehört, sie hatte nicht geschlafen –, und jetzt zog grauer Rauch über das Tal, schnell und schwer und voller Unheil. Wie sie diese drei Tage hinter sich bringen sollte, ohne zu schreien, war ihr nicht klar.
Das Knallen der Peitschen zitterte über den Köpfen. Sie sah die langen Schnüre durch die Luft fahren, erkannte etwas von den weißen Mützen der Wettläufer mit dem bunten Federbusch an der Seite, das Kostüm, in dem sie vor vierzehn Jahren zum ersten Mal ihren Mann gesehen und gedacht hatte: Gott, sieht das komisch aus. Die Kopfbedeckungen erinnerten an Funkenmariechen.
»Gehen wir jetzt endlich weiter?«
»Daniel, ich will, dass du aufhörst, mich ständig anzupflaumen, okay? Wir gehen jetzt da runter und suchen einen Platz, wo wir was sehen können. Und wir sehen später sowieso den ganzen Zug noch mal, wenn er eine Runde durch die Oberstadt dreht. Da sind dann auch nicht mehr so viele Leute.«
»Ich will jetzt was sehen.«
»Dann los.« Sie steckte ihre Regenjacke in den Rucksack und nahm ihn wieder auf die Schultern. Entlang der Ladenzeile ander linken Marktplatzseite, an der Spielhölle und dem Redaktionsgebäude des Boten vorbei gingen sie auf die Einmündung des Gartenbergs zu, da wo Daniel sich gestern noch einmal umgedreht und verabschiedet hatte, um den Rest des Abends mit Nobs um den Brunnen zu patrouillieren.
Sie sah den Mohr Hände schütteln und mit seinem Bart jungen Frauen schwarze Flecken auf die Backen malen. Lachen und Johlen folgten ihm wie der Lichtkegel eines Bühnenscheinwerfers.
Ihr Sohn sieht immer so ernsthaft aus beim Spielen, hatte Evi Endler gestern Abend gesagt, als ihre, Kerstins, Blicke wieder einmal zu lange Richtung Brunnen gerichtet waren. Eine dieser Bemerkungen, derentwegen sie ihre Nachbarin bei aller Sympathie für ein wenig einfältig hielt. Meistens konnte man ihr am Gesicht ablesen, was sie als Nächstes sagen würde. Jetzt sah er ernsthaft aus, aber jetzt spielte er auch nicht.
Sie erinnerte sich an seinen Blick, gestern Abend, als er schon im Bett lag. Die Augen offen gegen die Müdigkeit, ein Flackern der Aufgebrachtheit in den Pupillen, immer noch zu angespannt, um schlafen zu können. Einen Verdacht hatte sie schon die ganze Zeit über gehabt, aber nicht nachfragen wollen in Hans’ Gegenwart; sie würde es nicht nur früh genug, sondern viel früher erfahren, als ihr lieb war. Und sie hatte sich darauf vorbereiten wollen, innerlich, ohne zu wissen wie.
Den gesamten Sommer über hatte sie ein komisches Gefühl gehabt. Jürgens Besessenheit mit seinen Grenzgangsveranstaltungen, die Begeisterung, mit der er das Haus verließ, und die Schweigsamkeit, mit der er zurückkehrte, die Zunahme von Meinungsverschiedenheiten und die Abnahme von Zärtlichkeiten, kurz: diese schleichende Abwärtsbewegung irgendwann ab Mitte Mai. Aber über Monate hinweg hatte der konkrete Anhaltspunkt gefehlt; ein Name, eine Lüge, ein Zettel mit einer unbekannten Telefonnummer. Unter anderen
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