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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Bereich zu arbeiten?«
    »Kennen Sie eine? Ich werde nämlich demnächst arbeiten müssen, haben mein Exmann und das Justizministerium gemeinsam beschlossen.« Sie erwähnt die Änderung des Unterhaltsrechts, ändert es aber in Eigenregie noch ein wenig weiter, so dass sie Andreas Schwangerschaft aus der Geschichterauslassen kann. »Und verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen zu arbeiten, grundsätzlich. Im Gegenteil. Bloß mit meiner Mutter …«
    »Schwierig.« Frau Preiss scheint vertieft zu sein in den Anblick einer weißen Sonnenliege unter ihnen auf der Wiese. »Aber um die Ausbildung beneide ich Sie trotzdem. Ich hab Abitur und sonst nichts. Zwei Semester Jura in Gießen, in denen ich gelernt habe, wo sich die Mensa befindet. Ein sogenanntes freiwilliges soziales Jahr hab ich vorher noch gemacht. Und danach zwei freiwillige nicht ganz so soziale. Dann hab ich geheiratet. Kennen Sie noch diesen bescheuerten Loriot-Sketch mit dem Jodeldiplom?«
    »Glaub schon.«
    »Was Eigenes.« Frau Preiss unterdrückt ihr Lachen mit einem Kopfschütteln. »Aber genau so was Eigenes hab ich nie gemacht, nicht mal ein Jodeldiplom. Nicht mal Wassergymnastik beim Roten Kreuz. Glühwein am Weihnachtsmarkt hab ich verkauft, zusammen mit den anderen Rotarier-Frauen. Immerhin für einen guten Zweck.«
    »Eine Tochter haben Sie großgezogen, soweit ich weiß.«
    »Fällt das unter die Kategorie ›was Eigenes‹?«
    »Fällt es unter irgendeine Kategorie? Ich hab Ihnen doch von meiner Freundin am Starnberger See erzählt, die eigentlich von hier kommt.«
    »Anita – wie heißt sie jetzt?«
    »Halbach. Wenn Sie sie ärgern wollen, sagen Sie ›von Halbach‹, das stimmt nämlich auch.«
    »Als ich in der neunten oder zehnten Klasse war, gab es in meinem Jahrgang wenige Mädchen, die nicht so sein wollten wie Ihre Freundin Anita. Die muss in der Zwölf oder Dreizehn gewesen sein. Damals gab’s noch eine Disco hier in Bergenstadt, Melody-Maker , war ja die große Discozeit. Und es liefen die tollsten Gerüchte rum, in welchem Outfit Anita … na?«
    »Becker.«
    »Becker, genau. In welchem Outfit die dort aufgelaufen undmit welchem Kerl sie wieder abgedampft ist. Alles erfunden wahrscheinlich.«
    »Glaub ich nicht.«
    Mit einem Ausdruck erfreuten Erstaunens wendet Frau Preiss ihr das Gesicht zu. Soweit es in der Dunkelheit zu erkennen ist, haben Sekt und Wein ein deutliches Rot auf ihren Wangen hinterlassen.
    »Nein? War die wirklich so? Für mich war sie so, keine Frage. Ich wollte, dass sie so ist, ich wollte ja selbst so sein.«
    »Die war nicht nur so, die ist es immer noch. Nicht mehr auf dem Land natürlich und nicht mehr in Discotheken, aber das war es, was ich sagen wollte: Anita hat immer genau das gemacht, was sie machen wollte, immer ihr eigenes Ding sozusagen. Ist hierhin und dahin gereist, hat Männer getroffen und irgendwann einen davon geheiratet, einen mit Immobilien noch und noch.«
    »Sie war also wirklich so«, murmelt Frau Preiss. »Irgendwie gefällt mir das. Die Frau hatte wirklich Schwung.«
    »Und seitdem hat sie mehr Geld, als sie je wird ausgeben können. Hat eine Boutique eröffnet und ein halbes Jahr später wieder dichtgemacht, weil sie keine Lust mehr hatte. Vor zwei Wochen rief sie aus Nizza an, einer ihrer Liebhaber hat sie dahin mitgenommen oder sie ihn. Was weiß ich.« Es ist ihre übliche, nicht ganz aufrichtige Empörung über ihre einzige Freundin. Aber das, was sie eigentlich hat sagen wollen, behält sie für sich: Dass Anita keine Kinder hat und auf der Schwelle zu dem Alter steht, da ihr Lebensstil einen Hauch von Lächerlichkeit bekommt. Dieses Abwärtsschlittern von Affäre zu Affäre, jenseits der Vierzig und mit Liebhabern, die entweder gekauft sind oder noch älter als sie.
    »Und?«
    »Und – würden Sie so leben wollen?«
    »Ha!« Ein plötzlicher Husten schüttelt Frau Preiss so heftig, dass sie ihr leeres Glas abstellen und sich am Geländer festhalten muss. Es wirkt ein wenig theatralisch und gespielt. Unten imGarten steht ein Beistelltisch neben der Liege, darauf ein vergessenes Magazin, dessen Seiten sich in der nächtlichen Feuchtigkeit zu wellen beginnen. Es dauert eine Weile, bis Frau Preiss tief durchgeatmet hat und den Blick wieder hebt.
    »War das eine Fangfrage jetzt?«
    »Nein. Finden Sie nicht, dass es ein Leben auf der Flucht ist? Dass da was fehlt? Dass sie etwas nachjagt, was sie nie kriegen wird, weil sie genau genommen vor etwas wegläuft. Kurz und

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