Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Abenteuerurlaub in die Mongolei oder sogar nach Nordkorea fuhren und mit wertvollen Mineralien oder sogar Edelsteinen von dort nach Hause zurückfuhren. Ich entsinne mich der frühen Reisenden, die von Moskau nach Abu Dhabi flogen, als vom »Übermorgenland« bei uns noch gar nicht die Rede war. Ich entsinne mich eines Stadtführers zu Swerdlowsk/Jekaterinburg Mitte der 1990er Jahre, in dem stand: »Printed in the United Emirates«. Istanbul und Tientsin, Delhi und Shenyang waren Destinationen, die es zuvor in der Sowjetunion oder im Ostblock nicht gegeben hatte. Shoppingtourismus war nicht nur Kommerz. Es hatte etwas zu tun mit Grenzerfahrung, Logistik, Kennenlernen der weiten Welt, Sprachkundigkeit, Weltläufigwerden. Mit jeder Reise sickerten neue Erfahrungen in die Heimat ein. Mit jedem Aufenthalt im Ausland erschien der alte Zustand merkwürdiger und unhaltbarer – aber auch für manche wie ein verlorenes Paradies. Praktiken, Kenntnisse, die kein Lehr- und Schulbuch in Marktwirtschaft und Kapitalismus hätten vermitteln können, wurden so implementiert: zuerst in den Köpfen, dann in der Wirklichkeit. Auch hier gibt es Tausende von Beispielen: wie die Cafés aus dem Boden schossen, wie sich eine Dienstleistungskultur entwickelte, wie die Reisebüros rasch zu einer der wichtigsten Branchen wurden, wie das Auto zu einem der wichtigsten Vehikel für Mobilität und Aufstieg wurde.
Neue Routen, neue Koordinaten, neue Netzwerke
Viele Wege im geteilten Europa hatten ins Aus geführt. Was einmal Verkehrsknotenpunkt war, war zur Endstation geworden. 1989 hat die Szene radikal verändert. Fern liegende Orte rückten wieder in die nächste Nachbarschaft, die Relationen zwischen Zentrum und Peripherie verschoben sich. So wurden Wege eröffnet, die vielfach nur die Wiederinbetriebnahme oder Modernisierung alter Routen und Wege waren. Jeder kann hier Beispiele aus seinem eigenen Erfahrungsbereich zitieren: Berlin-Breslau; Prag-Nürnberg; Wien-Bratislava; Wien-Zagreb; Warschau-Kaunas; Tallinn-Helsinki; Helsinki-Sankt Petersburg; Odessa-Istanbul usf. Hier handelt es sich nicht nur um die technische Wiederinbetriebnahme von Verkehrswegen, sondern oft auch um die Regeneration und Revitalisierung alter, aber für fast ein Jahrhundert unterbrochener Kulturzusammenhänge. Es war großartig zu sehen, wie der an den einstigen Grenzen aufgehaltene und verlangsamte Verkehr sich wieder Bahn brach, am sichtbarsten an den alt-neuen Grenzübergangsstellen entlang des Eisernen Vorhangs. Seit der Erweiterung der EU ist aber auch diese Grenze verschwunden bzw. nach Osten verschoben worden – von Frankfurt an der Oder nach Terespol an der polnisch-weißrussischen Grenze etwa. Nun sind sogar schon die alten Grenz- und Kontrollanlagen demontiert, und man passiert, ohne anzuhalten oder den Pass vorzeigen zu müssen. Es war vor 20 Jahren schwer vorstellbar, dass es so rasch gehen würde. Es braucht nicht viel Phantasie, sondern nur ein aufmerksameres Hinsehen, um die Wucht dieser Bewegungen zu verstehen. Es handelt sich nicht um punktuelle Aktionen oder Demonstrationen, sondern um Bewegungen, die nie mehr abbrechen. Sie verlaufen täglich, stündlich, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Sie machen die Zirkulation von Gütern, Menschen, auch Ideen zur Grundlage unseres mehr oder weniger gleichmäßig funktionierenden Alltags. Hier wird genau kalkuliert, alles muss berechenbar sein, Zeit, Risiken, Entfernungen. Es ist das dichteste und verlässlichste Netz, das sich denken lässt. Keine europäische Kultur ohne europaweite Logistik, kein europäischer Diskurs ohne Verkehrs- und Kommunikationsnetz, keine Verständigung ohne die Experten der Vermittlung.
Es hat etwas Überwältigendes, diesen Bewegungen zuzusehen. Ich erlaube mir zuweilen diesen Luxus und gehe dann zum Terminal am Frankfurter Tor an der deutsch-polnischen Grenze, um die Bewegungen zwischen dem Ural und dem Ruhrgebiet, zwischen Rotterdam und Teheran, zwischen Lyon und Helsinki zu beobachten. Die modernen Karawansereien sind nicht weniger interessant als die legendären an der Seidenstraße, auch wenn sie mit Fernsehen und GPS ausgerüstet sind. 5
Studien am Check-in-Schalter
Es gibt privilegierte Orte, an denen man sehen kann, worauf es ankommt. Das können Bahnhöfe sein, neuerdings auch wieder Omnibusbahnhöfe, selbstverständlich auch die Botschaften und Konsulate, an denen man sich sein Visum abholen kann. Interessant sind auch die Grenzorte, die Orte des Übergangs, des Sprach-
Weitere Kostenlose Bücher