Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
Vom Netzwerk:
Potsdamer Platz zog an den Wochenenden Hunderttausende an. Der Basar hatte seine eigene Attraktion – kommerziell, von den Waren her gesehen, auch ästhetisch. Das war etwas anderes als ein Supermarkt oder das KaDeWe. Ein Stück Irreguläres, nichtregulierter Markt, Anarchie. Es wurde gekauft und besichtigt. Vor allem die Immigrantenhaushalte der Türken profitierten von den neuen Gelegenheiten. Dort, wo einmal der Basar war, ist heute der Potsdamer Platz mit den Gebäuden von Renzo Piano, Gerhard Jahn und Hans Kollhoff. Es hat seine eigene Logik. 2
    Der Basar war eine Haupterscheinungsform dessen, was sich im östlichen Europa getan hat. Seine Stunde war gekommen, als die Zentralverwaltungswirtschaft ihren Geist aufgegeben hatte, als die Leute sich selber auf den Weg machten, um das gerissene Netzwerk der Versorgung mit Gütern des alltäglichen Bedarfs neu zu knüpfen. Mit eigener Initiative, eigenen Ideen, auf eigene Kosten und eigenes Risiko. Die Basarlandschaft ist verschwunden, und sie wird Gegenstand kommender Dissertationen sein in Disziplinen, die im Augenblick, in dem man hätte Geistesgegenwart zeigen müssen, den Augenblick verschliefen – die Soziologie, die Anthropologie, die Geschichtswissenschaft auch. Die einzigen, die die Vorgänge wahrgenommen haben, waren vermutlich die Händler selbst, die Organe, die für die öffentliche Ordnung zuständig sind – die Polizei vor allem –, die Posten an den Grenzen und entlang der Straßen und neuen Handelsrouten. Kaum eine Stadt, die nicht einen neuen Marktplatz, einen Basar hatte Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Kaum eine Grenze, an der das Gefälle zwischen den Währungen nicht hätte ausgenutzt werden können. Kaum ein Hafen oder eine Grenzstadt, die von der neuen Bewegung der Handelsreisenden – Shoppingtouristen, Ameisenhändler genannt – nicht profitiert hätte. 3
    Ich habe seinerzeit die Märkte in Łódź/Tuszyn, in Vilnius, in Czernowitz, in Odessa, Chmelnyzkyi, Warschau-Praga besucht und bin den Routen nachgegangen: zwischen Kaunas und Warschau, zwischen Tallinn und Helsinki, zwischen Odessa und Istanbul, zwischen Minsk und Istanbul, zwischen Budapest und China. Es gab wohl keinen Warensektor, der nicht betroffen gewesen wäre: von Unterwäsche und gefälschten Designerklamotten bis zu Säften, Spirituosen, Autos, Möbeln. Die Inventarlisten und die Handelsreihen auf den großen Basaren – sie ergeben eine wahre Topographie der Bedürfnisse und der je herrschenden Nachfrage.
    Ganze Stadtviertel änderten ihr Aussehen und ihre Funktion. Stadien wurden zu Handelszentren, Boulevards zu Malls, Stadtzentren waren schwarz von den Hunderttausenden, die sich zum Schwarzmarkt einfanden – etwa in Moskau Anfang der 1990er Jahre.
    Ganze Berufszweige stürzten mit dem Ende des Sozialismus zusammen, ganz neue entstanden. Es gab zu viele Lehrer, Pianisten, Bürovorsteher, Dispatcher, zu wenig Juristen, Programmierer, Experten. Und zwischen den alten und den neuen Berufen entstanden Übergangsberufe, amphibische Existenzen, die Hauptleistung der Anpassung von Menschen an den Zusammenbruch einer alten Lebenswelt. So treffen wir auf den Basaren überall Leute mit doppelter oder mehrfacher Identität, mit mehreren Berufen, meist überqualifiziert: Journalisten, die zu commis voyageurs geworden sind; Polizisten, die, in Schwarz gekleidet, jetzt die Containerbuden auf den Basaren bewachen; Lehrer, die ihre Familien ernähren, indem sie Autos von Rotterdam nach Marjampole überführen; Direktorinnen, die vorübergehend wenigstens zwischen Jekaterinburg und dem chinesischen Tientsin pendeln.
    Die Basare sind Symptome des Kollapses der alten Wirtschaftsform, zugleich aber die Vorläufer – im besten Fall – einer neuen Marktökonomie. Auf ihnen wird aber nicht nur gehandelt, sondern auch gelernt. Hunderttausende, ja Millionen haben im Laufe von gut zwei Jahrzehnten die Grenze überschritten, haben die Märkte und Unterkünfte von Istanbul, Palermo, Neapel, Helsinki, Urumtschi kennengelernt. Sie haben die Welt gesehen, und einige haben daraus etwas für sich machen können. Viele der Pendlerinnen im Zug Berlin-Warschau oder Krakau-Wien waren nicht polnische Putzfrauen, sondern Angestellte oder Lehrerinnen, und viele, die einmal polnische Putzfrauen waren, sind heute Unternehmerinnen von Rang und Vermögen geworden. 4
    Auch diese Bewegungen hatten ihre Vorgeschichte. Ich entsinne mich der polnischen Touristengruppen, meistens Männer, die zum

Weitere Kostenlose Bücher