Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
sondern eher von Alt und Neu oder von Originell und Konventionell. Das beginnt schon ganz früh. Die jetzt heranwachsende Generation hat schon keine Erinnerung mehr an die Zeit vor 1989, sie hat oft sogar nicht einmal mehr eine Vorstellung, kennt gewisse Namen und Personen schon nicht mehr, sie hat die Grenze, die uns im Kopf ist, nie überschreiten müssen, und vieles, was wir aus Vor-1989er-Zeiten zu berichten wissen, ist für sie Vorgeschichte, Antike – wenn es sie überhaupt interessiert. So ist der Kopf frei für ganz neue Bilder, Konfigurationen. Es gibt ein Privileg der sehr späten Geburt. Hier bauen sich Lebens- und Erwartungshorizonte auf, von denen die ältere Generation kaum eine Vorstellung haben kann.
Neue Städte im Untergrund
Man kann es mit Händen greifen. Im akademischen Diskurs heißt das »Transformation«. Die Stadt Berlin lädt sich auf mit Fremden, sie saugt sich voll. Im Bus vom Flughafen höre ich das polnische Idiom. Im Bus hinter mir, bei Wegert, in den Computergeschäften, vor allem aber im KaDeWe höre ich russische Laute. Auf der Köpenicker Straße sehe ich Autos mit Kennzeichen, die Riga, Vilnius, Kattowitz oder Bulgarien bedeuten. Die Linie nach Kreuzberg vereinigt Leute aus aller Welt: den Folksänger aus Dublin, den Gitarristen aus Brasilien, das Romakind aus der Walachei, den aus dem Schwäbischen Angereisten, Skandinavier zu Besuch in ihrem Zweitwohnsitz. Es werden immer mehr. Aber die Stadt ist groß, und so verteilt es sich. Es sind verschiedene Intensitätsgrade der neuen Bindung an den Ankerplatz Berlin: Die einen kommen auf Einkaufstour, man bleibt nur für ein paar Tage, man bringt irgendwie die Nächte schon zu in der Stadt, in der die Hotels erschwinglich sind; man kommt irgendwie unter bei Bekannten oder irgendwelchen Adressen. Man bleibt länger. Man bleibt sogar, um sich etwas Geld zu verdienen, das zu Hause Gold wert ist. Man wächst aus dem Status des Zuschauers und Entdeckers in den Zustand dessen, der sich auskennt. Man wird von einem Entdecker und Neuling zu einem Eingeweihten. Man lernt, sich in der fremden Stadt zu bewegen. Irgendwann bietet sich eine Möglichkeit, die wird genutzt – und die Stadt profitiert davon. Denn alles geht ohne Zwang, jeder handelt nur nach seinem Vorteil. Aus dem Ausflug wird der längere Aufenthalt, aus dem bloßen Geldausgeben das Geldverdienen. Man klinkt sich in Netzwerke ein, die man dadurch verstärkt. So wächst eine Stadt neben und unterhalb der real existierenden. Berlin ist im Stadium der Doppelstadt. In der Stadt der Eingeborenen beginnt die Stadt der Zugewanderten zu leben und zu arbeiten. Noch ist sie ephemer, noch lagert sie sich im Verborgenen um die sichtbare kristalline Struktur der gewesenen real existierenden Stadt an. Aber irgendwann wird sie da sein – öffentlich, das bisherige Selbstverständnis der Stadt sprengend. Es wird das andere Berlin sein, das mit dem vor der Mauer nur noch den Namen gemein hat. Die Internationalität wechselt die Farbe. Die Internationalität der geschlossenen Frontstadt ist eine andere als die der offenen Stadt, die jetzt erst bemerkt, wie sehr sie von allem abgeschnitten war. Die Internationalität, die die John-Foster-Dulles-Allee und die Kongresshalle und den Los-Angeles-Platz, den Bersarinplatz, die Leninallee und die Glinka- und Puschkinstraße hervorgebracht hat, gehört einer Zeit an, die es nötig hatte, selbst noch die Plätze und Straßen in den Weltanschauungskampf miteinzubeziehen.
Viel drastischer fallen die Änderungen ins Auge, wenn man nach Warschau oder Moskau blickt. Von dort aus erscheint Berlin als großer Kurort – gesegnet mit billigem Wohnraum, luxuriösen Altbauwohnungen, drei Opernhäusern, breiten Straßen ohne Parkplatzsorgen, mehreren Universitäten, billigen Hotels und 20 Minuten S-Bahnfahrt zu den Seen im Grunewald. Eine Art pleasure ground von starker Attraktion.
Überall ist die Verwandlung im Gange. Ein Georg Simmel hätte Anfang des 21. Jahrhunderts viel zu tun in den Großstädten Europas.
Wie ein neues Bild von Europa im Kopf entsteht
Mancher ist vielleicht enttäuscht darüber, wie wenig hier die Rede davon ist, was Europa alles ist: ein System von Werten, ein Ensemble von Traditionen, vor allem: eine Einheit der Kultur. Mancher wird sich fragen, warum hier so viel von Trucks gesprochen wird und nicht vom Humanismus, der Reformation, den Errungenschaften der europäischen Aufklärung, des Bürgertums, der liberalen Demokratie – kurz: von
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