Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
Vom Netzwerk:
allem, worauf Europa stolz ist und sich etwas einbilden kann. Es gibt gute Gründe, auf der Spezifik und dem Zauber der europäischen Kultur zu bestehen, wenngleich sich das meist relativiert, wenn man draußen gewesen ist und sich etwas umgesehen hat in der Welt. Europa ist ein fast endloses, immer wieder neu einsetzendes Gespräch, fast so wie über Gott und die Welt. Was Europa alles ausmache in seinem Wesen: Selbstreflexivität, Skepsis, Pluralität, Toleranz usf. usf., so dass man fast ein Problem bekommt, zu verorten, wo sich eigentlich die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts abgespielt haben könnten und in wessen Namen. Dem Europadiskurs sind Tagungen gewidmet, Seminare, Museen, Reden. Es gibt Berufseuropäer und eine Europarhetorik, die man erkennt, noch ehe der erste Satz gesprochen ist. Und es gibt eine gewisse Müdigkeit, die nicht unbedingt etwas mit der Müdigkeit der Europäer, sondern mit der Erschöpfung eines alt gewordenen Diskurses, den Stereotypen des Europabildes, der Erfahrungslosigkeit und der Begriffsfixiertheit des Europadiskurses zu tun hat. Das ist immer ein Zeichen dafür, dass etwas zu Ende gekommen und dass die Sprache schal geworden ist. Und es ist ein Zeichen dafür, dass neue Erfahrungen erst noch zu machen sind, für die sich dann auch die Sprache einstellen wird. Viele Europadiskurse sind überflüssig, weil sie Selbstbestätigungen anstelle des Erzählens der verschiedenen Erfahrungen sind, eher ein Gespräch auf kleinstem gemeinsamem Nenner als die Entfaltung verwirrend vieler Geschichten, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Warum soll man sich mit jemandem über Serbien unterhalten, der nie die Klöster im Kosovo gesehen hat? Warum soll man sich über Russland und Europa unterhalten, wenn der Betreffende keine Ahnung hat, was Petersburg ist? Warum soll man sich über Kulturgefälle von West nach Ost unterhalten, solange man Krakau oder Odessa nicht zur Kenntnis genommen hat?
    Es gibt gute Gründe für ein Moratorium für eine gewisse Sorte von Europadiskurs. Westeuropa hat sich verausgabt, es ist an der Zeit, innezuhalten, sich erst einmal umzusehen, in einen Prozess der ursprünglichen Akkumulation von Erfahrung einzutreten, Bilder zu sammeln. Vor aller Besserwisserei geht es erst einmal um Wissen, Wahrhaben, Wahrnehmen, sich umsehen, sich die Geschichten erzählen, zu denen man 50 Nachkriegsjahre keine Zeit oder keine Gelegenheit hatte.
    Es ist daher nicht ganz zutreffend, von Europamüdigkeit zu sprechen, sondern von der Erschöpfung eines alt gewordenen Diskurses. Die Themen dieses Diskurses sind hinreichend bekannt: Europa als Traum oder als Alptraum? Die Grenzen Europas – wo verlaufen sie? Europa als kultureller Raum usf. usf. Es ist kein Verlust, wenn dieser Diskurs für eine Weile ruht und wir die Zeit nutzen, um hinauszugehen und uns umzusehen. Man wird belohnt. Man bekommt etwas zu sehen, worauf man nicht gefasst war: dass es Städte von geradezu unwahrscheinlicher Schönheit gibt. Dass es eine Einheit Europas gibt, die weiter zurückreicht als 1945 oder 1938 oder 1914. Dass es die Landschaften, von denen wir nur aus alten vergilbten Photographien wussten, in Wirklichkeit gibt. Dass Czernowitz nicht nur ein Name der Literaturgeschichte ist, sondern der Name einer wirklichen Stadt, die man durchaus besuchen kann. Wenn nicht alles täuscht, ist das Interesse an diesem Europa ohne Grenzen groß, vielleicht nicht so groß, wie es Enthusiasten der ersten Stunde sich gewünscht haben, aber doch größer und wuchtiger, als jene glauben, die das Interesse für Europa an Beitrittsdaten messen. Europa ist Pilsen, wo Škoda/Volkswagen produziert wird. Europa ist das »Hotel Gellert«, wo die wohlhabenden Pensionäre aus Österreich oder den Niederlanden im Thermalbad herumschwimmen. Europa ist die Europa-Universität Viadrina, wo etwa ein Drittel der Studenten aus dem Ausland kommt, meist aus dem östlichen. Europa ist, wenn Berliner Studenten sich entschließen, nach Lemberg oder Łódź zu fahren. Europa ist, wenn Zivildienstleistende alte Leute in Sankt Petersburg oder Kasan betreuen und zurückkommen mit einer Kenntnis von Sprachen und Land, die in meiner Generation nicht einmal ein fertiger Professor hatte. Europa ist, wenn Zeitgleichheit hergestellt wird zwischen den Buchhandlungen auf dem Boulevard Magheru in Bukarest, auf der Andrássy út in Budapest und bei Biblioglobus in Moskau. Europa ist, wenn sich die Leute am Strand von Benidorm so vermischen

Weitere Kostenlose Bücher