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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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er Schmerzmittel und antibiotische Salbe, dann zog er die Spritze mit Atipamezol zum Aufwachen auf und piekste sie in Stalins Hinterteil. Es war vollbracht, dachte Kyell, er hatte es tatsächlich geschafft, unglaublich und doch wahr. Er legte Stalin zurück in den Sicherheitskäfig und schloss das Gitter. Er atmete tief durch, dann ging er in den kleinen Küchenbereich, nahm zwei Tassen und schüttete grünen Tee ein. Er gab Tuva die Tasse mit der Aufschrift: Tiere sind auch nur Menschen.
    Tuva blickte auf den benommenen Stalin, der langsam wieder aufwachte. Er versuchte den Kopf zu heben, aber der wackelte nur ungelenk hin und her. Auch die ersten zaghaften Versuche aufzustehen waren nicht von Erfolg gekrönt. Er kommentierte seine Schwäche mit einem Zischen aus der Vorhölle. Tuva hingegen schien zufrieden, ein leichtes Lächeln zeichnete sich um ihre Mundwinkel ab, als sie sagte:
    »Ich bin nur froh, dass es dein Gesicht war, das Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili als Letztes gesehen hat, bevor er einschlief. Ich weiß nicht, wie er regieren wird, wenn er wieder ganz bei Sinnen ist, wenn er ›Stalin ohne Eier‹ gerufen wird. Er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, und er ist so fürchterlich nachtragend. Verstecken ist da auch keine Option, er neigt zu flächendeckender Vergeltung. Was die Rechnung anbelangt: Komm doch einfach mal in den nächsten Tagen bei uns vorbei, da werden wir schon eine Lösung finden. Und dann kannst du Stalin ja auch noch mal Hallo sagen.«

7
    Der Apfelkuchen war mit Rosinen gespickt. Da hätte sie ja gleich einen Topfenstrudel oder einen Kaiserschmarrn bestellen können. Eine Unverschämtheit. Gretchen Morgenthau war nicht amüsiert. Sie hasste Rosinen. Ausgetrocknet, faltig, matschig, süß. Es gab nichts Schlimmeres auf der Welt, außer Atomweltkriege. Vielleicht.
    »Hast du eigentlich jemals Rosinen probiert?«, fragte Fine, die ihr gegenübersaß und ein khakigrünes Kostüm von Bottega Veneta trug, das ihr so gut wie gar nicht stand. Die karierten Pumps von Ferragamo machten es auch nicht besser. Obwohl Gretchen trotz ihres Wesens überraschend viele Freundschaften pflegte, war Fine ihre einzige wahre und wahrhaftige Freundin, wenn sie ehrlich war. Aber Ehrlichkeit, sagte sie immer, wird überschätzt.
    Sie kannten sich seit der Zeit im Internat in Gloucestershire. Sie waren beide 14 Jahre alt, als sie sich das erste Mal in der Westonbirt School im Gang des Dorchester House begegneten. Gretchen wusste sofort, dass dieses blasse, zu Übergewicht neigende und mit rosigen Pickeln gesegnete Mädchen ihre beste Freundin werden würde. An Gretchen sah die Schuluniform wie Haute Couture aus, an Fine wie Kartoffelsack. Fine war nie wirklich hübsch, aber sie war nett, und jeder mochte sie irgendwie. Sie war, wie eine beste Freundin eben zu sein hatte.
    Außerdem ergänzten sich beide perfekt. Fine war gut in Latein, Chemie, Physik, Geschichte und allen anderen Fächern, Gretchen in Kunst. Nur in Sport war Fine nicht besser als jeder durchschnittlich begabte Querschnittsgelähmte. In Leichtathletik und Gymnastik zerstörte sie jedwede Anmut alleine durch ihr Dasein. Sie besaß weder Körper- noch Taktgefühl, und wenn Bälle auf sie zuflogen, fiel sie in der Regel um. Und so gehörte sie im Schlagballspiel nie zur allerersten Wahl. Fines soziale Kompetenz indes war unbestritten, sie war die Grande Dame der Diplomatie. Hatte Gretchen Morgenthau mit einem, mehreren oder allen anderen Mädchen Stress, so war es Fine, die mit ihrem ausgleichenden Wesen die Wogen glättete, die von irgendwelchen Missverständnissen sprach, zum Tee mit heimlich eingeschleustem Hochprozentigem lud und den Frieden für einige Tage wieder ins Haus holte. Außerdem kam sie ihr in Jungsdingen nie in die Quere. Es reichte ja, dass die Jungs alle hinter Gretchen her waren, alles andere wäre nur unnötig kompliziert geworden.
    »Du könntest die Rosinen auch einfach beiseite legen«, sagte Fine.
    Gretchen Morgenthau blickte von ihrem Apfelkuchen auf und sah Fine voller Finsternis an, als habe diese ihr geraten, die Rosinen einfach beiseite zu legen. Mit der Gabel? Und sich vielleicht noch dafür entschuldigen, dass sie Rosinen verachtet, entschuldigen dafür, dass es im Leben wohl kaum eine größere Plage gibt als Rosinen?
    Einmal pro Woche ging sie ins Emilys, diesem Hawelka-Imitat in chic, in das Exil-Wiener, Touristen und junges Trendvolk gingen, um eine Melange zu trinken und einen Apfelkuchen zu essen, und

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