Gretchen
Talent nicht auf der Bühne lag, dass sie vielmehr in Bildern zu denken, dass sie zu komponieren und zu dirigieren verstand. Und so hospitierte sie bei Guthrie und Devine, wohnte eine Zeit lang dem politischen Theater der Joan Littlewood bei und wähnte sich auf dem besten Wege, eines Tages eine berüchtigte Prinzipalin zu werden. In der Welt der Regisseure und Intendanten aber, in einer von Großmannssucht und Pfauentum verschwitzten Dünkelwirtschaft, schaffte sich nur Respekt, wer das Messer in den Rücken des Lehnsherren zu bohren verstand, exakt zwischen den Schulterblättern, tief, sehr tief. Dafür brauchte es Nerven aus Stahl und eine ausgeprägte Affinität zum altehrwürdigen Meucheltum. Anders war den Herren der Schöpfung nicht beizukommen, denn dem Weib war es zwar unbenommen, die Mutter Courage zu mimen, außerhalb der Bühne aber sollte es vorzugsweise penetriert werden oder sonstwie zu Diensten sein. Gretchen Morgenthau war diesbezüglich eine äußerst unangenehme Partie, weshalb ihr wohl auch keine Steine, sondern ganze Steinbrüche in den Weg gelegt wurden. Sie lernte schnell, was es bedeutete, wenn Kollegen plötzlich auffallend oft in der Disposition zu sehen waren und der Technik kistenweise Hochprozentiges vor die Füße stellten. Sie kannte all die kleinen und großen Tricks, die notwendig waren, um die Konkurrenz ins offene Messer laufen zu lassen, um die Premiere der höheren Gewalt zu opfern. Es gab auch Männer, die offen sagten, dass sie nicht mit Frauen zusammenarbeiten, da die Bestie Regie selbstverständlich nur von einem Mann zu bewältigen sei. Männer, die euphemistisch Chauvinisten genannt wurden, deren Hybris jedes Schamgefühl erblassen ließ, deren Künstlersein das Ungezogene und die Schreihalsigkeit doch geradezu einforderte, gab es im Theater zu Genüge, ja, es schien gar in ihren Genen zu liegen, voller Furor in den untersten Schubladen zu wühlen und denkmalend Schwein zu sein. Doch es gab auch jene, die in den Pausen ihrer Göttlichkeit und nimmermüden Egomanie zu menschelnden Flaneuren mutierten, die mit Charme, Humor und Weisheit ihre Schäfchen und alten Hasen zu besänftigen und zu motivieren verstanden, an denen aufzuschauen ein Verlangen und kein Gehorsam war, jene wenigen, denen die Mündel Leib und Seele vor die Füße warfen, jene wenigen, die zu den ganz Großen wurden, die das Theater komischerweise immer wieder mal hervorbrachte.
»Geld oder Leben!«
Gretchen Morgenthau hatte die Haustür gerade erst geöffnet und den Jungen aus der engen Gasse gar nicht kommen sehen. Er drängte sie zurück in den barocken Hausflur. Er war vielleicht vierzehn Jahre alt, mit dunklen Locken, die sein milchiges Gesicht umspielten, nicht wahrhaft groß gewachsen und von schlaksiger Gestalt. Er hielt eine Pistole in seiner zarten Hand, er streckte den Arm aus und seine vollen Lippen schienen leicht zu zittern, als er zum zweiten Mal sagte: »Geld oder Leben.«
Gretchen Morgenthau blickte, nur mäßig überrascht, den jungen Mann an. Todesangst sah irgendwie anders aus, weniger gleichgültig, mehr mit Schweißperlen auf der Stirn und mit Knien aus Wackelpeter.
»Geld oder Leben«, wiederholte der Junge mit dünner, aber nun lauter Stimme.
»Bitte?«, fragte Gretchen Morgenthau.
»Geld oder Leben, Alte. Hörst du schlecht?«
»Da du so direkt fragst, ja, in der Tat, mein Gehör hat in den letzten Jahren doch erheblich nachgelassen …«
»Jetzt pass mal gut auf, Oma, das hier ist ein verfickter Raubüberfall, und wenn ich dich frage, Geld oder Leben, dann ist das doch nicht schwer zu verstehen, oder?«
»Nun gut, dann Leben.«
»Was?«
»Leben. Du fragtest, ob Geld oder Leben, und ich gebe dir mein Leben.«
»Ich ficke deine Mutter!«
»Bitte?«
»Gib mir dein scheiß Geld, du Opfer.«
»Na, den geschenkten Gaul und das Maul kennt man wohl nicht mehr. Zeiten sind das.«
»Das ist kein verdammtes Spiel, Oma!«
»Nicht in dem Tonfall.«
»WAS?«
»NICHT IN DEM TONFALL!«
»ICH KNALL DIR GLEICH DIE BIRNE WEG!«
»ICH HABE KREBS IM ENDSTADIUM!«
Stille.
In der Ferne klapperte ein Gaul im leichten Trab auf Kopfsteinpflaster. Der junge Verbrecher senkte die Pistole und ließ die Schultern hängen. Seine Augen, die noch vor einer Minute zu unbarmherzigen Schlitzen verengt waren, glichen denen von Seehundbabys. Doch auch für Seehundbabys gab es Menschen, die so lange mit einem Knüppel draufschlugen, bis nur noch ein totes blutiges Etwas übrigblieb.
»Mein lieber
Weitere Kostenlose Bücher